Auf dem Rücken des Tigers
eine Freiheit, die seine Sinne zum Zerreißen spannte. Jutta nahm diese Schwingung auf, sie hofften beide, daß eine Brutalität an ihnen vollzogen würde, die Heilung brächte.
Als die Strophe: »When a man loves a woman …« wieder einsetzte, war Erik sich sicher, daß auch bei ihm nach Jahren wieder ein Refrain eingesetzt hatte.
Er riß das Mädchen an sich, unfähig, sich zu beherrschen, beherrscht von einem Drang, den ihm das Leben wiedergeschenkt hatte.
Er hatte zu lange auf diesen Moment gewartet, um ihn verschieben zu können. Erik riß Jutta an sich, riß sie mit. Es schien, als tanzten sie im Liegen weiter. Erik hatte Hände, die zupackten, vergessend, daß eine Schweineparty nicht der Ort sei, die Genesung zu feiern, genas er ohne Rücksicht auf die anderen, nahm, was Jutta gab, gab, was Jutta nahm. Mochten Fremde im Raum sein, sie waren allein, bar der Trivialität. Sie stürzten in einen Abgrund, hielten sich mit den Händen, mit den Augen, mit den Sinnen, und so fielen sie weich.
Es dauerte lange, bis sie wieder zu sich kamen.
»Wir waren verrückt«, sagte Erik.
»Nein«, antwortete Jutta, »glücklich.«
Er nahm ihre Hand, zog sie hoch. »Und diese da?« fragte er, auf die grölenden und grinsenden Relikte der Nacht weisend.
»Die gibt es nicht«, entgegnete das Mädchen.
Sie gingen über den Gang, stiegen über Alkoholleichen, wichen den Exkrementen geplatzter Mägen aus. Sie waren blicklos für pharmazeutische Wüstlinge. Selbst den Rhythmus hörten sie nicht mehr.
Sie gingen nach draußen. Als sie die Tür öffneten, geblendet vom Licht, fiel der schale Rauch von ihren Kleidern ab, verlor sich der Alkohol aus ihrem Atem.
Sie standen da und sahen in die Sonne, langsam weitergehend, mit einem Schritt, in einem Takt, Traumwandler der Stunde, die sie halten wollten. Sie spürten gleichzeitig, daß ihnen die Sonne eine Brücke baute; sie könnte sie tragen.
»Ich glaube, es wird ein schöner Tag«, sagte Jutta leise.
»Schlimm«, sagte der Chefarzt im Leichenkeller der Heil- und Pflegeanstalt Siebenberge und bedeckte mit dem Laken das geschundene Gesicht des entseelten Patienten.
Der Arzt wußte nicht, daß Christian Schindewolff zu Lebzeiten die Farbe Weiß immer gehaßt hatte, aber nun konnte er sie auch nicht mehr spüren.
»Lassen Sie um Gottes willen den Mann einsargen, bevor seine Angehörigen hier auftauchen«, setzte er beschwörend hinzu.
»So endete eine Weihnachtsfeier«, erwiderte sein Assistent. »Ich habe soeben diesem Einfaltspinsel von Krautkopf die fristlose Entlassung mitgeteilt.«
Dr. Jungmann stand in der Nähe und versuchte, sich nicht ansehen zu lassen, wie sehr ihn anwiderte, daß der Skandal vertuscht werden sollte.
Noch wußte man nicht wie er entstanden war. Aber der Verstorbene hatte Geld gehabt. Es war ihm vermutlich durch Bestechung gelungen, den verdammten Schnaps in das Haus einzuschmuggeln, zumal an diesem Tag das Personal mehr das Friedensfest im Kopf gehabt hatte als die Paketkontrolle.
Die Sekretärin des Anstaltsleiters schob sich zögernd in den Raum, sah erleichtert, daß der Tote wieder zugedeckt war.
»Tut mir leid, Herr Chefarzt«, sagte sie, »ich habe den Bruder des Verstorbenen noch nicht erreichen können.«
»Und die Schwägerin?«
»Ist auf die Bermuda-Inseln geflogen.«
»Gibt es denn keinen in der Familie …«, rief der Chef verärgert.
»Einen Neffen«, entgegnete die Sekretärin. »Er ist Kommunarde in Berlin und zur Zeit eingesperrt.«
»Feine Familienverhältnisse«, erwiderte der Anstaltsleiter.
»Das trifft sich doch ganz gut«, meldete sich der Assistent wieder. »Ich will versuchen, heute noch von der Polizei die Leiche für die Feuerbestattung freizubekommen.«
Christian, der zu Lebzeiten nie in ein offenes Feuer hatte sehen können, ohne an den Tod zu denken, erlebte posthum die Erfüllung eines letzten Wunsches, weil man einen Eingeäscherten nicht exhuminieren und somit nicht feststellen konnte, wie er gestorben ist.
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