Auf dem Zeitstrom
O Gott, nach all diesen Jahren des endlosen Suchens! Es kostet dich nicht mehr als eine Minute! Du kannst mir nicht verwehren, zu ihr zu gehen; es wäre unmenschlich, wenn du es tätest!«
Die Axt des Wikingers zerschnitt sirrend die Luft. Erik grinste. »All diese Umstände nur für eine Frau? Und was würde dann mit ihr?« Er deutete auf ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen, das in der Nähe des Raketenwerfers saß.
Die Bemerkung führte dazu, daß Clemens noch bleicher wurde. Er sagte: »Temah ist ein feines Mädchen! Ich bin sehr vernarrt in sie. Aber sie ist nicht Livy!«
»Genug davon«, erwiderte Blutaxt. »Hältst du mich für einen ebensolchen Narren wie dich selbst? Wenn ich anlege, sitzen wir zwischen den Feuern der Uferbewohner und unserer Verfolger. Wir würden zwischen ihnen zermahlen werden, wie das Mehl in Freyrs Mühle. Vergiß deine Alte.«
Clemens stieß einen falkenähnlichen Schrei aus und stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf den Wikinger. Erik knallte ihm die flache Seite der Axt gegen den Schädel, und der Schlag warf den Amerikaner zu Boden. Mehrere Minuten lang lag Clemens auf dem Rücken auf den Decksplanken und starrte in die Sonne. Blut rann ihm vom Haaransatz über das Gesicht. Schließlich versuchte er sich aufzurappeln, kroch einige Sekunden auf allen vieren herum und übergab sich.
Erik bellte einen ungeduldig klingenden Befehl. Temah, die ihn mit einem verängstigten Blick von der Seite musterte, ließ einen an einem Seil befestigten Eimer in den Fluß hinab. Sie goß ihn über Clemens aus. Der Amerikaner richtete sich langsam wieder auf und kam auf die Beine. Temah holte einen zweiten Eimer Wasser und säuberte damit das Deck.
Clemens knurrte Erik wütend an. Der Wikinger sagte lachend: »Du hast jetzt lange genug hier herumgeschwätzt, du kleiner Feigling. Jetzt weißt du, was mit dir geschieht, wenn du es noch einmal wagst, mit Erik Blutaxt zu sprechen, als sei er ein Knecht. Du solltest froh sein, daß ich dich nicht umgebracht habe.«
Clemens entfernte sich von Erik, packte die Reling und versuchte sich an ihr hinaufzuziehen. »Livy!«
Mit einem Fluch sprang Blutaxt auf ihn zu, packte ihn um die Hüfte und riß ihn zurück. Er versetzte Clemens einen solch heftigen Stoß, daß er erneut zu Boden fiel.
»Ich werde nicht zulassen, daß du ausgerechnet jetzt desertierst!« stieß der Wikinger hervor. »Ich brauche dich, um dieses Eisenlager aufzuspüren!«
»Es gibt kei…«, sagte Clemens und unterbrach sich mitten im Satz. Wenn der Nordmann herausfand, daß er weder wußte, wo, noch, ob überhaupt so etwas existierte, wonach er suchte, war sein Leben auf der Stelle verwirkt.
»Außerdem«, fuhr Erik fort »könnte es möglich sein, daß ich deine Hilfe auch dann noch benötigen werde, wenn wir das Eisen gefunden haben. Wer weiß, wozu du nützlich bist, wenn wir uns aufmachen, um den Polarturm zu suchen. Natürlich könnte ich auch einfach weiter dem Fluß folgen. Aber du besitzt einen Menge Wissen, das mir nützlich sein kann. Und außerdem brauche ich diesen Frostriesen Joe Miller.«
»Joe!« sagte Clemens mit belegter Stimme. Er versuchte aufzustehen. »Joe Miller! Wo ist er? Er wird dich umbringen!«
Erneut zerschnitt Eriks Axt pfeifend die Luft über Clemens’ Kopf. »Du wirst ihm kein Wort sagen, hast du verstanden? Ich schwöre dir bei Odins leerer Augenhöhle, daß ich dich schneller getötet habe, als er auch nur eine Hand an mich legen kann. Ist das klar?«
Clemens stand jetzt wieder auf den Beinen. Er schwankte wie eine Birke im Sturm. Dann rief er mit lauter Stimme: »Joe! Joe Miller!«
2
Vom Achterdeck her erklang das Gemurmel einer Stimme, die so tief war, daß sich sogar bei jenen Männern, die sie zum tausendsten Male hörten, vor Entsetzen die Nackenhaare aufrichteten.
Die leichte Bambusleiter knirschte plötzlich so laut, daß sie beinahe das Singen des Windes in den ledernen Schiffstauen, das Klatschen der Segel, das Knirschen der hölzernen Schiffshülle und das Rauschen der sich dem Bug entgegenwerfenden Wogen übertönte.
Der Kopf, der sich nun über den Decksrand erhob, wirkte noch schrecklicher als die unmenschlich tiefe Stimme. Er war zerfurcht und so groß wie ein kleines Bierfaß und spiegelte eine solche Verwüstung wider, daß man die hinter eckigen Knochenwülsten verborgenen, kleinen blauen Augen zunächst gar nicht bemerkte. Die Nase des Wesens wiederum paßte überhaupt nicht zum Rest seiner Gesichtszüge. Wo
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