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Auf dem Zeitstrom

Auf dem Zeitstrom

Titel: Auf dem Zeitstrom Kostenlos Bücher Online Lesen
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Bomben, Gleiter, Raketen und Pfeile schienen von seinem Standpunkt aus gesehen nun in einem völlig anderen Winkel zu liegen. Es war, als habe sich das unterste nach oben gekehrt. Die Segel und Masten flogen davon, als seien sie von einer Schleuder abgeschossen worden. Das Schiff, nun von einer zusätzlichen Last befreit, tänzelte aufgeregt. Clemens hatte es nur dem Titanthropen zu verdanken, daß er von der plötzlichen Bewegung nicht im gleichen Moment über Bord geschleudert wurde.
    »Fäm!« schrie Joe Miller, streckte blitzschnell einen Arm aus und packte ihn, während er sich mit der anderen am Ruder festhielt. Der Steuermann unterstützte ihn, indem er das Ruder ebenfalls mit aller Kraft daran hinderte, sich zu drehen. Nun war es an der Raketenmannschaft der Dreyrugr, einen entsetzten Schrei auszustoßen. Die Druckwelle hatte sie ergriffen, ließ ihre Haare flattern und wischte sie wie einen Schwarm Vögelchen über die Reling. Die Frauen wirbelten durch die Luft und klatschten ins Wasser. In dem Moment riß die Verankerung der Schleuder, und das Instrument folgte seiner Bedienungsmannschaft nach.
    Blutaxt hielt sich mit einer Hand an der Reling fest und schwang mit der anderen seine Axt. Während das Schiff auf und nieder tanzte, gelang es ihm, die Waffe in die dafür vorgesehene Scheide zurückzustecken. Nun hielt er sich mit beiden Händen fest, und das praktisch in allerletzter Sekunde, denn der Wind schrie jetzt wie eine von einer Klippe stürzende Frau und überzog das Wikingerschiff mit heißem Feueratem. Clemens glaubte einen Moment lang, den Gehörsinn verloren zu haben. So ungefähr mußte es sich anfühlen, wenn man sich in unmittelbarer Nähe einer explodierenden Granate aufhielt.
    Eine Welle packte das Schiff und hob es hoch. Clemens öffnete die Augen und brüllte. Dennoch hörte er davon nichts, denn durch die Detonation waren seine Ohren nahezu taub.
    Eine Mauer aus schmutzigbraunem Wasser – sie war mindestens fünfzig Meter hoch – wälzte sich aus der Richtung der Flußverengung auf sie zu. Sie war noch etwa vier oder fünf Meilen von ihnen entfernt. Clemens’ erster Impuls war, die Augen wieder zu schließen, aber er war wie gelähmt. Mit starrem Blick musterte er das bewegte Wasser, bis die Flutwelle nur noch eine Meile von der Dreyrugr entfernt war. Sie trieb gewaltige Baumstämme – Pinien, Eichen und Eiben – vor sich her. Als sie näher kam, konnte Clemens sogar Teile von Bambus- und Pinienhütten, ein fast intaktes Dach, ein Schiffswrack mit teilweise erhaltenen Masten und den walähnlichen, dunkelgrauen Körper eines Drachenfisches erkennen, den die aufgewühlten Wasser aus den Flußtiefen an die Oberfläche gespült hatten.
    Entsetzen packte ihn. Er wünschte sich plötzlich, tot umzufallen; er wollte diesem schrecklichen Ende, das sich ihnen mit rasender Schnelligkeit näherte, nicht ins Auge sehen müssen. Aber da er nicht auf Wunsch sterben konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als mit stumpfem Blick und ausgeschaltetem Bewußtsein mitanzusehen, wie das Schiff der Wikinger – anstatt versenkt und unter Tausenden von Tonnen Wasser zermalmt und begraben zu werden – wie ein Spielball auf den unerbittlichen Wellen tanzte, während sich vor ihm die schmutzigbraune Wand auftürmte, die jeden Moment zuschlagen und ihn unter sich begraben konnte. Der Himmel hatte sein Blau verloren und präsentierte sich als wolkenlose, stumpfgraue Decke.
    Dann waren sie wieder auf dem Höhepunkt der sie tragenden Welle. Die Dreymgr tanzte, schlingerte, ächzte, wühlte ihre Nase in das Wasser wie eine gründelnde Ente, sank wieder in die Tiefe hinab und schwang sich erneut hinauf. Kleinere, aber immer noch mächtige Brecher schwappten in das Boot. Ein Körper knallte direkt neben Clemens auf die Decksplanken. Eine Welle hatte ihn an Bord gespült. Clemens, den das Grauen jetzt vollkommen in seinen Krallen hatte, schenkte ihm nur einen verständnislosen Blick. Er war zu verwirrt, um jetzt noch etwas fühlen zu können; sein Geist hatte eine Grenze überschritten, die die Gesundheit seines Bewußtseins bedrohte.
    Und so starrte er Livys Leiche an, die auf der einen Seite völlig zerschmettert und auf der anderen nahezu unversehrt war! Es war Livy, seine Frau; die er eben vor wenigen Minuten auf dem Uferstreifen gesehen hatte.
    Die nächste Welle riß Sam Clemens beinahe in Stücke. Der Titanthrop ließ das Steuerrad fahren und stürzte zu Boden. Der Steuermann schrie auf. Er wurde im gleichen

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