Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Kleine, die in Jouy in Pension ist. Es kommt mir ganz so vor, als hätte ich die heute schon gesehen.«
»Aha! Ja, das wäre möglich«, sagte meine Tante. »Sie müßte dann für die Festtage nach Hause gekommen sein. Natürlich! Dann brauchen Sie sich nicht erst zu erkundigen, sie wird für die Festtage gekommen sein. Aber dann werden wir ja gleich Madame Sazerat bei ihrer Schwester schellen sehen, wenn sie sie zum Mittagessen besucht. Natürlich! Ich habe ja den Kleinen von Galopin mit einer Torte vorübergehen sehen! Sicher ist die Torte bei Madame Goupil abgegeben worden.«
»Wenn Madame Goupil Gäste hat, Madame Octave, werden Sie bestimmt alle gleich anrücken sehen, so sehr früh ist es nämlich nicht mehr«, meinte Françoise, die es jetzt eilig hatte, wieder in ihre Küche zu kommen und sich dem Mittagessen zu widmen, und daher meine Tante gern mit der Aussicht auf eine Zerstreuung sich selbst überlassen hätte.
»Oh, vor zwölf Uhr nicht«, antwortete meine Tante in gottergebenem Ton, während sie einen besorgten, aber verstohlenen Blick auf die Pendeluhr warf, denn niemand sollte wissen, daß sie, die doch allem entsagt hatte, bei der Nachricht, daß Madame Goupil Tischgäste erwarte, ein so lebhaftes Vergnügen voraussah, das freilich leider noch etwas länger als eine Stunde auf sichwarten ließ. »Und dann wird es gerade in meine Essenszeit fallen!« fügte sie halblaut im Selbstgespräch hinzu. Ihr Mittagessen war nämlich eine so ausreichende Zerstreuung für sie, daß sie keiner anderen zur gleichen Zeit bedurfte. »Sie werden doch auch nicht vergessen, mir meine Œufs à la crème 1 auf einem flachen Teller zu bringen?« Das waren nämlich die einzigen, die mit figürlichen Darstellungen geschmückt waren, und bei jeder Mahlzeit machte meine Tante sich ein Vergnügen daraus, die Unterschriften auf demjenigen zu lesen, der ihr gerade gebracht worden war. Sie setzte ihre Brille auf und entzifferte: »Ali Baba und die vierzig Räuber« oder »Aladin und die Wunderlampe« und sagte dann lächelnd zu sich selbst: »Schön! Sehr schön!«
»Ich wäre aber sonst auch gern zu Camus gegangen …«, sagte Françoise, als es klar war, daß meine Tante sie nicht mehr hinschicken würde.
»Nein, nein, das lohnt nicht mehr, sicher war es die kleine Pupin. Meine liebe Françoise, es tut mir wirklich leid, daß ich Sie wegen nichts habe heraufkommen lassen.«
Meine Tante wußte indessen ganz genau, daß sie Françoise nicht »wegen nichts« herbeigeschellt hatte, denn in Combray war jemand, »den man nicht kannte«, ein ebensowenig glaubhaftes Wesen wie ein Gott der Mythologie, und tatsächlich konnte sich niemand erinnern, daß nicht jedes Mal, wenn in der Rue du Saint-Esprit oder auf dem Marktplatz eine solche verblüffende Erscheinung aufgetaucht war, sorgfältige Nachforschungen dieses Fabelwesen alsbald auf die Maße einer Person, »die man kannte« – sei es persönlich, sei es sozusagen abstrakt, das heißt standesamtlich erfaßt als mehr oder weniger nah verwandt mit Bewohnern von Combray – hätten zurückführen können. Da war es dann entweder der Sohn von Madame Sauton, der vom Militärdienstzurück war, die Nichte des Abbé Perdreau, die die Klosterschule beendet hatte, der Bruder des Pfarrers, ein Steuereinnehmer aus Châteaudun, der in Pension gegangen war oder hier die Festtage verbrachte. Bei ihrem Anblick hatte einen der Gedanke erschüttert, es gebe in Combray Leute, die man nicht kenne, ganz einfach, weil man sie nicht auf der Stelle erkannt oder identifiziert hatte. Und doch hatten Madame Sauton und der Pfarrer lange im voraus wissen lassen, daß sie ihre »Reisenden« erwarteten. Wenn ich am Abend beim Nachhausekommen von einem Spaziergang wie gewöhnlich zu meiner Tante hinaufging und ihr dabei einmal unvorsichtigerweise erzählte, wir hätten nahe beim Pont-Vieux einen Mann getroffen, den mein Großvater nicht kannte, rief sie: »Ein Mann, den Großpapa nicht kennt! Das glaubst du ja selber nicht!« Immerhin beschäftigte sie diese Neuigkeit auch weiterhin so sehr, daß sie Klarheit darüber haben mußte; mein Großvater wurde also herbeigeholt. »Sagen Sie doch, mein lieber Onkel, wen habt ihr denn da beim Pont-Vieux getroffen? Einen Mann, den Sie nicht kennen?« »Aber nicht doch«, gab mein Großvater zur Antwort, »es war Prosper, der Bruder des Gärtners von Madame Bouillebœuf.« »Aha! Natürlich!« sagte meine Tante beruhigt, aber noch etwas rot vor Aufregung; achselzuckend
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