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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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dem benachbarten Betstuhl ein gut verschnürtes Paket mit Petits-Fours vom Konditor gegenüber abgelegt hatte, die sie zum Mittagessen mit nach Hause nehmen wollte); auf einem anderen schien ein mit rosa Schnee bedecktes Gebirge, an dessen Fuß eine Schlacht geliefert wurde, direkt am Glas angefroren zu sein, indem es dieses mit seinen trüben Graupeln anschwellen ließ, so daß es aussah wie eine Scheibe, an der Schneeflocken hängengeblieben wären, Schneeflocken jedoch, die von irgendeinem Morgenschimmer rosig angehaucht wären (von dem gleichen vermutlich, der die Altarwand mit so frischen Rottönen versah, daß es schien, als stammten sie von einem flüchtig von außen einfallenden Licht und nicht aus den für alle Zeit auf den Stein gemalten Farben); alle waren so alt, daß man hier und da ihr silbriges Alter im Staub der Jahrhunderte schimmern sah und ihr weiches Glasgewebe wie blank und fadenscheinig wirkte. Eines von ihnen war ein hohes Fächerwerk, das aus unzähligen kleinen, rechteckigen, vorwiegend blauen Scheiben bestand und das einem riesigen Kartenspiel glich, wie man es einst für König Karl vi. 1 zu seiner Zerstreuung erfunden hatte; sei es nun, daß ein Sonnenstrahl aufgeblitzt war, sei es, daß mein Blick selbst durch seine Bewegung, es abwechselnd entzündend und zum Erlöschen bringend, eine gleitende, köstliche Feuersbrunst über das Fenster hintrug – einen Augenblick später hatte es den leuchtenden Changeantton einer Pfauenschleppe angenommen, dann zitterte und wogte es in einem phantastischen Flammenregen, der aus derHöhe der düsteren, felsigen Wölbung kam und an den feuchten Wänden niederrieselte, als sei es das Schiff einer von spitzbogigen Stalaktiten schimmernden Grotte, in die ich meine das Meßbuch tragenden Eltern hineinbegleitete; noch einen Augenblick später hatten die kleinen Rautenfenster die tiefe Transparenz, die unverwüstliche Härte von symmetrisch auf einem ungeheuren Brustschild angeordneten Saphiren angenommen, hinter denen man aber, beglückender als alle diese Schätze, ein flüchtiges Sonnenlächeln erriet; es war ebenso deutlich erkennbar in dem sanften blauen Strom, mit dem es die Edelsteine badete, wie auf dem Pflaster des Platzes oder dem Stroh des Marktes, und selbst an den ersten Sonntagen nach unserer Ankunft vor Ostern tröstete es mich darüber, daß die Erde noch nackt und schwarz dalag, durch den historischen Frühling aus der Zeit der Nachfolger Ludwigs des Heiligen, den es auf dem goldenleuchtenden und vergißmeinnichtblauen Teppich aus Glas aufblühen ließ.
    Zwei Haute-lisse-Gobelins stellten die Krönung der Esther 1 dar (die Überlieferung behauptete, Ahasverus trage die Züge eines Königs von Frankreich und Esther die einer Edlen von Guermantes, in die er verliebt gewesen sei), denen ihre ineinander übergehenden Farben einen veränderten Ausdruck, eine erhöhte Tiefenwirkung und eine neue Art von Beleuchtung gegeben hatten: etwas Rosiges schwebte auf den Lippen Esthers und um ihre Umrißlinien her; das Gelb ihres Kleides breitete sich so sämig, so füllig aus, daß es dadurch eine Art von Konsistenz bekam und sich lebhaft aus der dahinter zurücktretenden Atmosphäre abhob; das Grün der Bäume aber, das, in den unteren Partien des Panneaus aus Wolle und Seide frisch im Ton geblieben, in den oberen aber »verschossen« war, ließ oberhalb der dunkel gefärbten Stämme die hohen, ins Gelbliche spielenden Zweige, die durch dasunvermittelt von der Seite einfallende Licht einer unsichtbaren Sonne vergoldet und fast ausgelöscht waren, in zarter Blässe hervortreten. Alles das und mehr noch die Kostbarkeiten, die der Kirche von Personen zugekommen waren, die für mich beinahe einen legendären Charakter hatten (das goldene Kreuz, das, wie es hieß, vom heiligen Eligius 1 selbst gefertigt und vom König Dagobert 2 gestiftet war, das Grab der Söhne Ludwigs des Deutschen 3 aus Porphyr und Kupfer mit Emailauflage) und um derentwillen ich zu unserem Platz in der Kirche ging wie durch ein von Feen heimgesuchtes Tal, in dem der Landmann mit Staunen an einem Felsen, einem Baum, einem Teich die noch greifbare Spur ihres geisterhaften gelegentlichen Vorüberziehens erkennt, alles das machte sie für mich zu etwas, was sich von der übrigen Stadt vollkommen unterschied: zu einem Bau, der sozusagen einen vierdimensionalen Raum einnahm – die vierte Dimension war die der Zeit 4 – und der mit seinem durch die Jahrhunderte gleitenden Schiff von einem Joch

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