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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Marcels mit der Herzogin von Guermantes ( Unterwegs zu Swann [16], S. 260, Anm. 1). Wenn ich aber im Text zurückblättere, muß ich mit Bedauern feststellen, wie viele Baudelairesche Pointen mir beim Kommentieren entgangen sind. Daß es allen anderen Proust-Kommentatoren gleich ergangen ist, vermag mich nicht über die verpaßte Gelegenheit hinwegzutrösten. Wie gerne würde ich meinen Lesern zeigen, daß Proust von Anfang an Baudelaire nicht nur mit der Erkundung der Seele (und der Physis), sondern auch mit der Beziehung zu Mutter und Großmutter in Verbindung bringt. So beschließt er eine der ersten Szenen von »Combray« mit einem Porträt der Großmutter, in dem von ihren »braunen, durchfurchten Wangen« die Rede ist, die »beim Altern fast den malvenfarbenen Ton der Äcker zur Zeit der Herbstbestellung angenommen hatten«; »von der Kälte oder einem traurigen Gedanken herbeigeführt, trocknete darauf stets eine unwillkürliche Träne.« ( Unterwegs zu Swann [16], S. 21.) »Un pleur involontaire« – das ist bemerkenswert, nicht nur wegen des unüblichen Singulars, sondern auch wegen des unüblichen Beiworts. Und doch findet sich in keinem der bisherigen Kommentare eine Anmerkung zu dieser Stelle. Wie konnten die Proust-Kommentatoren (derjenige der Frankfurter Ausgabe inbegriffen) nur übersehen, daß das Porträt der Großmutter in ein Baudelaire-Zitat mündet? Dieses stammt aus der letzten Strophe des Gedichts »Au lecteur«, wo die Langeweile, der Ennui in personifizierter Form den Umzug der menschlichen Laster beschließt: »C’est l’Ennui! – l’œil chargé d’un pleur involontaire […].«
    In die Szene der Rundgänge der Großmutter im Garten hat Proust eine Szene eingelassen, die in der kleinen, nach Iriswurzel riechenden Kammer spielt, jener »petite pièce sentant l’iris«, die Zufluchtsort für alle Beschäftigungen ist, die unverletzliche Einsamkeit erfordern: Lesen, Träumen, Tränen und Lust – »toutes celles de mes occupations qui réclamaient une inviolable solitude: la lecture, la rêverie, les larmes et la volupté«. Damit schließt der Einschub; die Rundgänge der Großmutter werden wiederaufgenommen und zu Ende geführt, mit dem erwähntenBaudelaire-Zitat als Pointe. Hellhörig geworden durch »un pleur involontaire« liest man vielleicht auch die Passage über die kleine Kammer mit anderen Augen beziehungsweise Ohren. Braucht es neben inviolable solitude wirklich noch das starke Verb réclamer ? Hätte demander nicht auch genügt? Vielleicht schon, doch mit réclamaient gibt Proust seinem Text eine baudelairesche Klangfarbe. »Tu réclamais le Soir, il descend, le voici«, heißt es in dem Gedicht »Recueillement«; und plötzlich erahnt man, worauf, das heißt auf welche Pointe, die eingeschobene Passage hinzielt: »la lecture, la rêverie, les larmes et la volupté«. Wie konnten die Proust-Kommentatoren (ohne Ausnahme) nur übersehen, daß Proust hier den Refrain von Baudelaires Gedicht »L’Invitation au voyage« anklingen läßt: »Là tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe, calme et volupté«?

    So mischt sich denn beim Rückblick auf die Arbeit an der Frankfurter Ausgabe die Genugtuung über das Erreichte mit dem Bedauern über das Verpaßte. Dieses Bedauern aber mischt sich mit der Hoffnung, das Verpaßte in irgendeiner Form nachholen zu können.

    Mein Dank geht an den Suhrkamp Verlag, besonders an seine Lektoren: Elisabeth Borchers, Bernd Schwibs und Melanie Walz; an die Marcel Proust Gesellschaft und ihren Präsidenten Reiner Speck; an meine Mitherausgeberin Mariolina Bongiovanni Bertini; an meine Mitarbeiter Ivan Farron, Thomas Hunkeler, Sibylla Laemmel, Ariane Lüthi, André Oeschger und Isabelle Zuber; für Gespräche und Ratschläge an Alberto Beretta Anguissola, Antoine Compagnon, Daria Galateria, Catherine Geninasca, Alois Haas, Hanno Helbling, Philip Kolb, Françoise Leriche, Andreas Isenschmid, Peter von Matt, Nathalie Mauriac Dyer, Helmut Scheffel, Karlheinz Stierle und Rainer Warning.

    Zürich, im Juni 2002

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