Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
jedoch zusammengeballt, gepreßt oder verflochten wie beim Bau eines Nestes. In tausend kleinen überflüssigen Einzelheiten – sie stellten eine reizvolle Verschwendung von seiten des Apothekers dar –, die bei einer künstlichen Herstellung ausgeblieben wären, erkannte ich, wiewenn man in einem Buch verblüfft auf den Namen eines persönlichen Bekannten stößt, mit Vergnügen, daß es tatsächlich Stengel von wirklichen Lindenblüten waren, genau wie die an den Bäumen der Avenue de la Gare, freilich verändert gerade deshalb, weil sie keine Nachahmungen waren, sondern sie selbst, nur älter geworden. Und da jedes neue Merkmal daran nur die Metamorphose eines alten Merkmals war, erkannte ich in den kleinen grauen Kügelchen die grünen Knospen wieder, die nicht zur Entwicklung gekommen waren; der rosige, mondscheinzarte Schimmer aber, mit dem die Blüten sich aus dem zerbrechlichen Gewirr der kleinen Stengel heraushoben, in dem sie wie kleine Goldröschen hingen – ein Zeichen, ähnlich dem helleren Schein, der an einer Hauswand noch die Stelle andeutet, an der sich eine jetzt verwischte Freskomalerei befand, für den Unterschied zwischen den »in Farbe« ausgeführten Teilen des Baums und denen, die es nicht waren –, zeigte mir besonders deutlich an, daß diese Blütenblätter wirklich die gleichen waren, die, bevor sie den Beutel des Apothekers füllten, an Frühlingsabenden die Luft mit ihrem Duft durchhauchten. Dieses wachsrosa Leuchten war noch ihre Farbe, freilich halb erloschen und gedämpft in dieser Art von vermindertem Leben, das sie nun führten und das so etwas wie eine Blumendämmerung ist. Bald konnte meine Tante in den kochenden Aufguß, dessen Geschmack nach dürren Blättern und welken Blüten sie genießerisch kostete, eine kleine Madeleine eintauchen, von der sie mir ein Stückchen gab, wenn es genügend aufgeweicht war.
Auf der einen Seite ihres Betts befand sich eine große gelbe Kommode aus Zitronenholz und ein Tisch, der gleichzeitig etwas von einer Offizin und von einem Altar hatte; unter einer Statuette der Heiligen Jungfrau und einer Flasche Vichy-Célestins lagen dort Meßbücherneben Rezepten, alles also, was sie brauchte, um von ihrem Bett aus den Offizien und ihrer Diät zu folgen, um weder die Stunde des Pepsins noch diejenige des Abendgebets zu verpassen. Auf der anderen Seite stand ihr Bett unmittelbar unter dem Fenster, so daß sie die Straße vor Augen hatte und daraus von morgens bis abends, um sich die Zeit zu vertreiben, nach Art der persischen Prinzen die tägliche, aber gleichwohl in unvordenkliche Zeiten zurückreichende Chronik von Combray ablas, die sie hinterher gemeinsam mit Françoise kommentierte.
Ich hielt mich keine fünf Minuten bei meiner Tante auf, als sie mich auch schon wieder fortschickte, aus Angst, es strenge sie zu sehr an. Sie bot meinen Lippen ihr trauriges, bleiches und schales Haupt, auf dem sie zu dieser Morgenstunde ihr falsches Haar – mit dem Stützreifen, der durchschimmerte wie die Spitzen einer Dornenkrone oder die Kügelchen eines Rosenkranzes – noch nicht zurechtgemacht hatte 1 , und sagte zu mir: »So, mein gutes Kind, nun geh, mach dich fertig für die Kirche; und wenn du unten Françoise siehst, dann sag ihr, sie soll sich nicht zu lange mit euch aufhalten, sondern bald heraufkommen für den Fall, daß ich etwas brauche.«
Tatsache war, daß Françoise, die seit Jahren in ihren Diensten stand und noch nicht ahnte, daß sie eines Tages ganz zu uns kommen würde, meine Tante immer ein bißchen vernachlässigte in den Monaten, die wir im Hause verbrachten. In meiner Kindheit hatte es eine Zeit gegeben – bevor wir regelmäßig nach Combray gingen, damals, als meine Tante Léonie noch den Winter in Paris bei ihrer Mutter verbrachte –, wo ich Françoise so wenig kannte, daß meine Mutter am 1. Januar, bevor wir zu meiner Großtante hineingingen, mir jeweils ein Fünffrankenstück mit den Worten in die Hand drückte: »Paß gut auf, daß du dich nicht in der Person irrst. Warte mitdem Geld, bis ich sage: ›Guten Tag, Françoise!‹ und dich gleichzeitig am Ärmel zupfe.« Kaum waren wir dann in das dunkle Vorzimmer meiner Tante getreten, bemerkten wir auch schon im Dunkeln unter den Röhrenfalten einer blendend weißen Haube, die so starr und zerbrechlich schien, als wäre sie aus gesponnenem Zucker, das konzentrische Gewoge eines Lächelns voller vorweggenommener Dankbarkeit. Es war Françoise; sie stand unbeweglich im Rahmen der
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