Auferstehung
Senders, hatte neben seinem Mikrofon einsam Wache gehalten. Mit schauerlicher
Faszination hatte Jim mit angehört, wie Wolfs Geisteszustand allmählich unter
einem Hüttenkoller zerbröckelte. Die letzte Ausstrahlung endete mit einem
Schuss. Jim hielt es durchaus für möglich, dass er der einzige Zuhörer gewesen
war, der ihn mitbekam.
Jim schauderte in der kalten Luft,
die aus dem offenen Kühlschrank strömte. Er holte seine letzte Bierdose heraus
und schloss die Tür. Das Geräusch des Verschlusses hörte sich in der Stille wie
ein Gewehrschuss an. In seinen Ohren hallte ein Surren wider, das die Schreie
von oben übertönte. Sein Puls pochte in den Schläfen. Er hielt sich die kalte
Dose an die Stirn, dann setzte er sie an die Lippen und leerte sie in einem
Zug.
»Einen auf den
Weg.« Er zerdrückte die Dose mit der Faust und schleuderte sie in die Ecke, wo
sie klappernd auf dem Betonboden landete.
Jim ging wieder zur Pritsche und
zog den Schlitten der Pistole zurück. Die erste Kugel des Magazins glitt in die
Kammer. Im Magazin befanden sich dreizehn weitere, aber er würde nicht mehr als
eine brauchen. Das Summen in seinen Ohren war lauter geworden, und darüber
hörte er Carrie. Er schaute hinab auf die Fotos, die vor ihm auf den dreckigen
Laken ausgebreitet lagen.
Eine Aufnahme von ihnen in
Virginia Beach. Das war das Wochenende gewesen, an dem sie schwanger wurde. Sie
lächelte ihn vom Foto an. Jim erwiderte das Lächeln. Dann brach er in Tränen
aus.
Die wunderschöne Frau auf dem
Foto, diese Frau, die so dynamisch, schwungvoll und lebensfroh gewesen war,
schlurfte nun als verwesender Leichnam umher, der Menschenfleisch fraß.
Er setzte sich die Pistole an den
Kopf. Der Lauf fühlte sich kühl an seiner pochenden Schläfe an.
Von dem anderen Foto bückte Danny
zu ihm auf. Die Aufnahme zeigte sie beide vor dem Haus. Jim kauerte auf einem
Knie, Danny stand neben ihm. Danny hielt seine Seifenkistentrophäe, die er bei
einem Rennen in New Jersey gewonnen und in jenem Sommer mitgebracht hatte, um
sie seinem Daddy zu zeigen. Beide lächelten, und ja, sein Sohn sah ihm tatsächlich ungemein ähnlich.
Nun fiel ihm ihr letztes
Telefongespräch ein. Sein Finger versteifte sich um den Abzug. Zwar hatte er
damals nicht gewusst, dass es ihre letzte Unterhaltung sein würde, dennoch
hatte sich jedes einzelne Wort in sein Gedächtnis eingebrannt.
Jeden Samstag rief Jim seinen Sohn
an, und sie sahen sich eine halbe Stunde lang über das Telefon gemeinsam
Zeichentrickserien an. Jene letzte Unterhaltung war einer dieser Vormittage
gewesen. Sie hatten über die entsetzliche Gefahr gesprochen, der die Helden von Dragonball
Z ausgesetzt gewesen waren. Danach hatten sie über die
Schule und über Dannys Eins bei seinem letzten Test geredet. »Was hattest du
heute Morgen zum Frühstück?« »Fruity Pebbles«, hatte Danny geantwortet. »Und
du?« »Ich steh auf Cherrio's.«
»Igitt!« Danny gab einen
angewiderten Laut von sich. »Das ist eklig!«
»So eklig wie ein Mädchen zu
küssen?«, zog Jim ihn auf. Wie alle Neunjährigen fühlte Danny sich vom anderen
Geschlecht abgestoßen, konnte sich aber zugleich einer seltsamen Neugier nicht
erwehren.
»So eklig wie das ist gar nichts«,
gab er zurück. Dann wurde er still.
»Woran denkst du gerade, Großer?«,
wollte Jim wissen. »Daddy, kann ich dich etwas Ernstes fragen?« »Du kannst mich
alles fragen, was du willst, Kumpel.« »Ist es jemals in Ordnung, ein Mädchen zu
schlagen?« »Nein, Danny, das ist falsch. Du solltest niemals ein Mädchen
schlagen. Erinnerst du dich noch, worüber wir gesprochen haben, als du diese
Prügelei mit Peter Clifford hattest?«
»Aber da ist dieses Mädchen in der
Schule. Anne Marie Locasio. Sie lässt mich einfach nicht in Ruhe.« »Was macht
sie denn?«
»Sie ärgert mich pausenlos, nimmt
mir die Schultasche weg und scheucht mich herum. Die Fünftklässler lachen mich
aus, wenn sie es tut.«
Darüber musste Jim lächeln.
Fünftklässler, die uneingeschränkten Herrscher des Spielplatzes der
Grundschule. Als ihm klar wurde, dass Danny selbst nächstes Jahr in diesen
Rang aufsteigen würde, wurde ihm
schmerzlich sein Alter bewusst.
»Diese Typen musst du einfach
ignorieren«, erwiderte er. »Und wenn Anne Marie dich nicht in Ruhe lässt,
ignorierst du sie am besten genauso. Du bist ein ziemlich großer Junge. Ich bin
sicher, wenn du es wirklich versuchst, kannst du ihr entwischen.«
»Aber sie lässt mich einfach nicht
in Ruhe«,
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