Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Erden als Selbstbetrug verwarf, setzte er nicht einfach eine christliche Utopie an deren Stelle. Über Gott äußerte er sich immer ungewiss, nicht so über Jesus, der ihm Gott geoffenbart hatte: An Christus wollte er selbst dann glauben, wenn dies mit seinem Wahrheitsbegriff nicht in Einklang zu bringen war.
Hatte während der vier Katorgajahre niemand darauf Rücksicht genommen, dass D. Schriftsteller war, so verschaffte ihm während der Dienstzeit beim Militär in Semipalatinsk, die er 1854 antrat, der Bezirksstaatsanwalt von Vrangel, der einige seiner Werke kannte, kleine Vergünstigungen. Eine bestand darin, dass er bald zum Fähnrich befördert wurde. D. verliebte sich in eine verheiratete Frau, und nachdem deren Mann gestorben war, heiratete er sie im Februar 1857, obwohl er mit seinem kargen Sold – und überdies seit einigen Jahren von einer Epilepsie gezeichnet – eine Familie kaum ernähren konnte. Fortan begleiteten ihn Geldsorgen, denen er durch fleißiges Publizieren zu entgehen suchte. Er schrieb einige eher komische Prosatexte, so Selo Stepančikovo i ego obitateli: iz zapisok neizvestnogo (1859; Das Gut Stepanschikowo und seine Bewohner. Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten , 1890), eine längere Novelle um einen Möchtegernschriftsteller, der seine Umgebung tyrannisiert. Sie wurden zwar gedruckt, von der Kritik aber wenig beachtet.
Im August 1859 konnte D. Sibirien endlich verlassen, durfte aber noch nicht in eine der Hauptstädte ziehen. Er ließ sich zunächst in Tver’ nieder und bemühte sich um eine Übersiedlungsmöglichkeit nach St. Petersburg. Als ihm diese nach einigen Monaten durch den Zaren selbst gewährt wurde – Alexander II. war nicht nur neu im Amt, er war auch belesen –, versuchte D., an alte Erfolge anzuknüpfen. Er orientierte sich auf dem Zeitschriftenmarkt und gründete, nicht zuletzt aus finanziellen Erwägungen, zusammen mit seinem Bruder Michail 1861 die Zeitschrift Vremja (Die Zeit). Darin veröffentlichte er den Roman Unižennye i oskorblennye (1861; Erniedrigte und Beleidigte , 1885), mit dem er das Thema der »armen Leute« wieder aufnahm. Ganz anders gerieten die Zapiski iz mertvogo doma (1860–62; Aufzeichnungen aus einem Totenhaus , 1886), in denen D. seine Lagererfahrungen fiktional verarbeitete. In dieser dokumentarischen Prosa erfuhren die meisten Leser zum ersten Mal von den Lebens- und Arbeitsbedingungen im Zuchthaus. D. weckt Verständnis für Schicksale, er schildert die Lagerinsassen mit menschlichem Respekt, er spricht von ihrer leider fehlgeleiteten Stärke. Die Zapiski stellen den Anfang der modernen russischen Gefängnisliteratur dar.
Im Juli 1862 reiste D. (ohne Familie) für zehn Wochen nach Westeuropa – der schriftstellerische Ertrag der Reise waren die Zimnie zametki o letnich vpečatlenijach (1863; Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke , 1958), die ab Februar 1863 in Vremja erschienen. Während er das ideelle Europa, das der Bücher und Bilder, weiterhin sehr schätzte, war D. von den realen Lebensverhältnissen eher abgestoßen. Der bürgerliche Lebensstil mit seinen Zwängen und der Dominanz des Ökonomischen behagte ihm nicht, und entsprechend spöttisch fallen die Schilderungen der Lebensart einzelner europäischer Völker aus. Seine Enttäuschung war aber sicher nicht nur das Produkt der Reise, vielmehr sah D. in Europa auch seine früheren Vorbehalte bestätigt. Die Sibirienerfahrung hatte eine Abkehr von den linken Europäern bewirkt, die er im Petraševskij-Kreis noch bewundert hatte. Andererseits hatte er das russische Volk mit seinen Stärken und Schwächen in den Gefängnissen und Kasernen erlebt, was ihn davor bewahrte, sich in das Lager derjenigen zu verirren, die die im Volk bewahrten Traditionen als Wegweisung für die gesellschaftliche Zukunft Russlands ansahen. In dem damals in Russland lebhaft ausgefochtenen Streit zwischen Westlern und Slavophilen versuchte D. deshalb, eine vermittelnde Position einzunehmen. Sie bestimmt auch die politische Richtung seiner Zeitschrift. Vremja musste ihr Erscheinen aber 1863 einstellen, weil ein Artikel im Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand missverstanden wurde. Die Brüder D. beantragten sofort die Lizenz für die Nachfolgezeitschrift Ėpocha (Die Epoche).
Bis diese erteilt wurde, reiste D. erneut ins Ausland, dieses Mal, um eine junge Frau zu treffen, die er schon drei Jahre kannte: Apollinarija (Polina) Suslova. Die emanzipierte ledige Frau willigte
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