Auge um Auge - Ein Verehrer schuettete mir Saeure ins Gesicht Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand
Fenster. Dort hing ein blauer Vorhang. Ich wusste das, weil ich mir mein Zimmer einmal hatte beschreiben lassen. Die bunte Decke über dem Bett, die braune Tür, der graue Fußboden – all diese Dinge sah ich nur vor meinem inneren Auge. Der Himmel musste blau sein, das konnte ich fühlen. Wetter kann man spüren. Sonne, Wolken, Nieselregen, Wind fühle ich auf meiner Haut. Und ich kann das Wetter draußen riechen und hören – Sinneswahrnehmungen, die mich bis zu diesem Attentat nicht weiter interessiert hatten. Die vermutlich die meisten Menschen gar nicht registrieren, weil sie ganz viele Dinge in der Welt nur über die Augen wahrnehmen – und dann sofort wieder vergessen.
An jenem Tag im Juli musste ich den Anfang machen. Es war der Tag, an dem ich damit beginnen musste, mir alles, was geschehen war, wieder vor Augen zu führen. Und alles, was hinter mir lag, erneut zu durchleben. Ich hatte mir fest vorgenommen, mein Buch auf Band zu sprechen.
An diesem Morgen, wie jeden Tag, hatte ich geduscht, mich abgetrocknet, mein Gesicht mit Salbe eingerieben, Augentropfen in mein rechtes Auge geträufelt und meine schwarze Brille aufgesetzt. Ich zog die Jeans an, die mir so gut gefallen hatte, als ich noch ein wenig sehen konnte, und deren Farbe, hellgrau, mir noch lebhaft in Erinnerung war, streifte den weißen Trenchcoat über, den ich mir in Barcelona gekauft hatte, und ging mit dem Blindenstock in der Hand zum Bäcker um die Ecke, zu dem ich mich immer auf eine Tasse Tee und ein Stückchen Kuchen begab, wenn ich morgens nicht recht in Stimmung war.
Mir schwirrte so vieles durch den Kopf in dieser Zeit. Die Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehberichte, die Interviews und all die Fragen, die von außen und in meinem Innersten seit geraumer Zeit bohrten. Und nun saß ich da mit meinem Aufnahmegerät und den Kassetten, und die Fragen wurden noch quälender. Was war mit mir geschehen? Wie hatte es so weit kommen können? Warum ich? Wer war ich überhaupt? Wie würde es mit mir weitergehen? Würde es denn überhaupt weitergehen?
Mein Leben war bis dahin immer ein geruhsames gewesen. Es war friedlich, entspannt, glücklich und erfüllt. Heute aber ist es schwer, traurig und kompliziert. Heute muss ich über das Leben eines anderen Menschen entscheiden –
und ich muss jeden Tag erneut einen Weg finden, mich in meiner neuen Welt zurechtzufinden. Alles, was mir wichtig und wertvoll war, hat er mir einfach geraubt.
Und nun sprach die halbe Welt über mich. All diese Berichte, in denen mein Schicksal beschrieben und mein eiserner Wille diskutiert wurde. Manche hießen gut, was ich vollenden wollte, andere verurteilten mich. Die einen verstanden und bestärkten mich, andere schlugen auf mich ein. Unterstützung bekomme ich meist von Menschen, die mich kennen, die mit mir gelitten oder meine Geschichte über längere Zeit hinweg verfolgt haben. Sie verstehen, warum ich diesen Kampf aufgenommen und ein Gericht in Teheran zu einem ungewöhnlichen Urteil gedrängt habe. Sie wissen, warum ich hartnäckig geblieben bin, bis mir die iranische Justiz mein Recht auf Vergeltung zugesprochen hat.
Und nun war es so weit. Ich darf meinem Peiniger das antun, was er mir angetan hat. Ich darf ihn blenden. Ihm sein Augenlicht nehmen und ihn zu einem Leben in Dunkelheit verurteilen. So, wie er es mit mir getan hatte.
Ob ich das schaffe? Ob ich wirklich die Kraft dazu habe? Ich, die ich nie – wie man so sagt – einer Fliege etwas zuleide tun konnte? Ich, Ameneh Bahrami?
Ja, ich!
Ich werde es tun – davon bin ich überzeugt, wenn ich nicht gerade Zweifel hege. Was sollte mich daran hindern? Und falls ich zögern sollte, wenn ich an seine Seite trete, müsste ich mir nur vor Augen führen, was er aus mir gemacht hatte. Ich müsste mich nur erinnern an die schweren Minuten, Stunden, die ich durchlitten habe. Müsste mir nur den Augenblick vergegenwärtigen, als er mir Säure ins Gesicht geschüttet und sich mit seinem Herz aus Stein aus dem Staub gemacht hatte. Wie er an der nächsten Ecke stehen geblieben war und zugesehen hatte, wie ich qualvoll verbrannte. In jener Sekunde müsste ich mir nur in Erinnerung rufen, dass er mir meine schönen Augen genommen hat. Dass ich Tag für Tag vergeblich versuche, mir die Welt vorzustellen, in der ich seit Jahren lebe, ohne sie je gesehen zu haben. An die Zeiten ohne Geld, voller Schmerz, voller Kummer werde ich denken müssen, wenn ich mein Recht auf Vergeltung wahrnehmen werde.
Diese
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