Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
frische Zitrone und verschiedene Gewürze heraus und begann zu tippen. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, mit ihrer Suche im Internet irgendeine Spur zu hinterlassen – immerhin surften Millionen anderer Internetnutzer zur selben Zeit –, doch sie würde niemals wieder ein Risiko eingehen, soweit sie es vermeiden konnte. Schließlich hatte Joys Entführer innerhalb kürzester Zeit gewusst, wo er ihr hatte auflauern müssen, um sie kaltzumachen, weil Joy nach ihrer Entführung noch versucht hatte, mit ihr zu telefonieren.
Hätte Joy sie nicht geistesgegenwärtig angerufen und auf Alejos Anrufbeantworter gesprochen, weil sie mitten in der Nacht nicht rangegangen war, dann wäre in dieser Nacht tatsächlich ihre gesamte Familie gestorben.
Eleonore wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange. Sie würde um Jorge und Lore trauern, wenn sie Joy gefunden hatte.
Sie gab in Windeseile ihre Suchbegriffe ein, durchforstete das Netz nach möglichen Hinweisen auf alles Erdenkliche, das mit dem Verschwinden ihrer Enkelin zu tun haben könnte. Normalerweise gab sie nach einigen Stunden frustriert auf, hatte meistens nur Überschriften überflogen, doch heute unterschieden sich einige Nachrichten gewaltig von den üblichen Headlines. Sie nahm einen tiefen Schluck und begann die Artikel zu lesen.
Vor drei Wochen, als sie das letzte Mal ausführlich in einem Internetcafé gesurft hatte, waren ihr auch schon ein paar bizarre Gerüchte über einen angeblich bevorstehenden Weltuntergang untergekommen, doch sie hatte dies gedanklich unter »Schwachsinn, den die Welt nicht braucht, aber dennoch liest« abgehakt. Nun aber häuften sich die Meldungen. Angeblich erblindeten nicht nur in Amerika außergewöhnlich viele Menschen, sondern inzwischen überall auf der Welt. Nicht nur die fanatischen Sekten, auch Kirchen und sogar Politiker kündigten großes Unheil für die Menschheit an. Kaum zu glauben, dass sie sich mal in etwas einig waren. Die Menschen hätten den Zorn Gottes auf sich gezogen oder den Zorn Allahs oder den des sanften Buddhas, der auch mal schlechte Laune haben konnte. Die Staatsführung sprach von einem Angriff, doch jedes Land, jede Regierung schob es auf andere. Auf einem Kreuzfahrtschiff war eine Panik ausgebrochen, sodass die Passagiere hatten evakuiert werden müssen, einige kamen ins Krankenhaus. Einem Flugzeug hatte man zuerst die Landung, und dann das Aussteigen der Insassen verweigert, weil man eine unkontrollierte Ausbreitung befürchtete.
Eleonore fuhr sich über das Gesicht. Was war dies nun? Einfach wieder einmal ein wenig Panikmache auf der Welt durch die Medien und ein paar Wichtigtuer? Oder wirklich etwas Ernstes und Bedrohliches? Redete sie sich das ein oder lag es im Bereich des Möglichen, dass dies alles mit Joy zusammenhing?
Eigentlich musste das ausgeschlossen sein, viel zu unwahrscheinlich. Andererseits war das, was Joy konnte, auch unmöglich – eigentlich.
Sie kannte jede Internetseite, deren Sprache sie beherrschte, beinahe auswendig, die sich mit Indigo-, Kristall- und Regenbogenkindern befasste. Doch Joy war ihrer Meinung nach weit mehr als das. Okay, sie war ihre Oma und reagierte vielleicht hypersensibel oder interpretierte zu viel in die Fähigkeiten ihrer Enkelin hinein. Aber nein, sie dachte nicht von Gefühlen geleitet über Joy nach. Sie wusste einfach, was Joy konnte und worin sie sich von anderen unterschied.
In die Seele ihres Gegenübers blicken. Oder vielleicht sah sie auch ins Gehirn oder durch die Augen ins Herz. Begreifen oder gar verstehen konnte sie Joys Gabe selbstverständlich nicht. Aber Joy hatte ihr etliche Male bewiesen, dass sie nicht übertrieb oder einfach nur fantasierte, wenn sie ihr heimlich erzählte, was für ein Typ Mensch bei ihr saß oder ihr begegnet war.
Ein Bademeister war, keine zwei Wochen, nachdem Joy als junges Mädchen vor ihm zurückgeschreckt war, plötzlich aus der Badeanstalt verschwunden. Durch Alejo, der damals noch Hauptmann bei den Carabinieri gewesen war, erfuhr sie, dass er versucht hatte, sich an einem Mädchen in der Kabine zu vergehen. Und viele weitere Begebenheiten hatten sie darin bestärkt, dass Joy bei Weitem mehr war als ein normales, hochsensibles Kind. Sie war ein Kind des Himmels, eines, das Heilung versprach, durch … tja, durch was? Durch Erkennen?
Doch wie passten die streng wissenschaftlichen Artikel zu den abstrusen Weltuntergangsprophezeiungen? Diese berichteten nämlich sachlich davon, dass es sich um
Weitere Kostenlose Bücher