Auge um Auge - Moonbow #1 (German Edition)
ärgerte. Das war nicht sie! Sie hätte niemals auch nur einen Moment gezögert, Zac das Leben zu retten. Nur ihr falsches Ich – die unechten, eingetrichterten Erinnerungen, Gedankengänge und Gefühle – hatte gezögert, fühlte sich geschockt davon, dass sie es gewagt hatte, die Linsen herauszunehmen. Wann endlich würde sie sich von der Manipulation vollends befreien können? Sie wollte sich endlich wieder eins in ihrem Körper, ihrer Seele und ihrem Kopf fühlen und nicht mehr wie ein aus mehreren unterschiedlichen Menschen zusammengeflicktes Geschöpf.
Durch den schmalen Schlitz ihres linken Auges drang Licht. So hell, als sähe sie direkt in die Sonne. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, weil es so sehr brannte. View atmete tief durch. Ihre Augen reinigten sich ebenso wie ihr Herz, das vor Trauer schwerer wog als die Verdammnis. Sie wusste, dass sie keine Stimme hatte, dennoch versuchte sie es.
»Zac?« Kaum ein leises Krächzen, trotzdem wartete sie sehnsüchtig auf eine Antwort, einen Laut, irgendetwas, das nach Hoffnung klang.
Nichts. Wie ihr Herz bereits wusste. Sie hatte ihn nicht retten können, sie hatte viel zu langsam reagiert. Zac weilte nicht mehr unter den Lebenden.
Während sie mit spröden Lippen die Worte eines Gebets für Zac formte und es gen Himmel schickte, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Als ihr langes Gebet endete, verdrängte sie die niederdrückende Verzagtheit und blinzelte angestrengt.
Immer wieder ließ sie die Helligkeit ihre Augen berühren, bis sie bemerkte, dass das Licht nicht mehr alles war, was sie wahrnahm. Wolken! Sie konnte sie sehen! Rasch wanderten sie über den Himmel, sahen aus wie weiche Wattebäusche, formten Blumen, Baumkronen, Gesichter, sich ständig verändernde, ineinander übergehende Konturen.
»Grandma … Eli …« Ein Wimmern drang aus ihrer rauen Kehle. Sie erinnerte sich. Gerade erst hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen, da brach sie erneut in sich zusammen. »Grandma, bitte hilf mir! Bitte …« Vor Schmerz, Angst und Kälte krümmte sie sich Schutz suchend zusammen, fühlte sich gelähmt vor tief sitzender Furcht und Einsamkeit. Ihre Erinnerung kehrte bruchstückhaft zurück. Eli hatte ihr das Schwimmen beigebracht. »Du hast mir versprochen, mich immer zu beschützen, Grandma«, ein Schluchzer unterbrach ihr Geflüster, »bitte, wo bist du? Ich brauch dich.«
Ein Geräusch riss sie aus ihrer Lethargie. View öffnete vorsichtig die Augen. Eine Möwe saß auf dem Rahmen der Frontfenster, die vor spritzender Gischt schützten, und schlug mit den Flügeln. Ein zittriges Lächeln glitt über ihren Mund. Sie war nicht allein.
Auf allen vieren kroch sie zum Steuerpult und zog sich daran hoch. Der Vogel flatterte davon. Ihre Glieder zuckten protestierend vor Überanstrengung und Schwäche. Sie lehnte sich an und ließ den Blick im Kreis schweifen. Nur Wasser. Nichts als Wasser. Aber wenn hier eine Möwe flog, lag Land nicht allzu fern. Die grauen Wolken hingen tief. Dünne Nebelschwaden zogen über das Wasser wie ein Vorhang, der sich bald öffnen würde, um den Blick in eine freundlichere Zukunft freizugeben. Das Unwetter von vorhin war noch nicht lange fort. Vielleicht sah sie das Festland nur einfach noch nicht. Ganz sicher war es so, denn gewaltige Berge bedeckten die Küste von Vancouver, das wusste sie genau. Bei guter Sicht würde sie die Umrisse bestimmt sehen können.
Erfolglos versuchte sie, den Knoten des Seils um ihre Taille zu lösen. Er saß bombenfest. Unter Deck fand sie schließlich eine Truhe mit Anglerzubehör und darin ein scharfes Klappmesser. Endlich konnte sie sich von dem Strick befreien, der sie in der Vergangenheit festzuhalten schien und der sie schmerzlich an die vergebliche Suche nach Zac erinnerte. Doch auch, als das Tau zu Boden glitt, blieb das Gefühl der Leere zurück. Sie seufzte tief.
Obwohl sie Zac niemals gesehen hatte, ihn niemals hatte berühren dürfen und sie sicher war, dass er ihr einiges verheimlicht, sie überdies sogar belogen hatte, würde er allzeit ein quälendes Loch in ihrem Herzen hinterlassen. Egal, wem sie in ihrem Leben noch begegnen würde, Zac, von dem sie nicht einmal den vollständigen Namen kannte, würde auf ewig ein Vakuum in ihrem Inneren bilden. Sie hatte ihn sehr gemocht und es ihm nicht einmal gesagt. Sie hatte ihm nicht einmal gedankt, dass er sie aus dem Laboratorium befreit und ihr die Wahrheit über ihren Aufenthalt gesagt hatte, obwohl sie sie nicht hatte hören
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