Augen der Nacht (Dunkelmond Saga) (German Edition)
Vorfahren schon
vor
tausend Jahren angelegt hatten. Allein im Bereich Medizin
mussten es über tausend sein.
Vell hatte keine Ahnung, wo sie ihre Suche beginnen sollte.
Aber dafür gab es ja Leitern.
In luftiger Höhe reihten sich an die hundert Exemplare über
Anatomie und weitere siebzig über die Behandlung von
Verletzungen. Auch über Hausmittel, Zahnschmerzen und
Schwindsucht.
Doch
halt.
Ein Buchrücken
fehlte,
genau
zwischen zwei verzierten Pflanzenlexika.
Ein Zufall?
Nein, ihr Großonkel musste es selbst heraus genommen
haben.
Also, kletterte sie hinunter und begann zu suchen. Zuerst
sah sie in jede Sitzecke, jeden Winkel und jeden Raum,
vorbei an Regalen und Tischen. Dabei entdeckte sie, dass
ein Fenster offen stand. Der Vorhang war bei Seite gezogen
und die Sonne schien
auf
den staubigen
Fenstersims.
Tatsächlich, sie hatte es längst geahnt. Dort lag ein Buch.
Gebannt
ging sie darauf
zu
und beugte
sich
über die
vergilbten Seiten.
Bei Gott, sie musste es nicht mal nachschlagen.
Rumex Vivensis- Das Kraut des Lebens,
Der Saft der reifen Knospen verlängert das Leben eines
unheilbar Kranken über die natürliche Dauer hinaus,
sofern sein Herz zum Zeitpunkt der ersten Einnahme
noch intakt ist. Die Wirkung hält jedoch nicht länger
als
3 Wochen
an und
geht mit einer
vollständigen
Zerstörung der Leber einher. Nach dem Ableben des
Patienten färbt sie
sich
schwarz, ebenso wie seine
Lippen und die Zunge. Die Verabreichung an Gesunde
ist daher strengstens verboten, da sie unwiderruflich
zum Tode führt.
Sie
blätterte
weiter,
suchte
nach
Worten,
einem
Gegenmittel, irgendetwas. Doch welche Krankheit er auch
hatte, hier stand es geschrieben: Ihr Großonkel würde bald
sterben, so oder so. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Gab es
denn niemanden, der ihm helfen konnte? Keine Medizin?
Das hatte sie ihm nicht gewünscht, egal was für ein Mensch
er auch sein mochte.
Zu allem Übel hörte sie nun eine Stimme auf der Terrasse.
Ihr Großonkel. Na großartig. Ihr blieb ihr nur wenig Zeit,
um zu verschwinden.
So schnell sie konnte huschte sie aus der Bibliothek und
nahm die Wendeltreppe nach unten.
Sie beschloss, Egan zu suchen. Vielleicht hatte er eine Idee.
Denn ihre waren schon ausgegangen.
Doch diesmal war er nicht bei den Hühnern, auch nicht bei
den Ziegen. Stattdessen traf sie den alten Samuel an, der
gerade den Stall sauber machte. „ Wo ist Egan?“ , brach es aus
ihr heraus: „ Ich muss mit ihm sprechen !“
„ Er ist nicht da , Mistress. Er ist nach Weald gefahren. “ Müde
kratzte sich Samuel seinen weißen Bart, „ soll ich ihm was
von dir ausrichten?“
„Wann kommt er denn wieder?“
„ Vor Sonnenuntergang hoffe ich, wir haben noch eine Menge
zu tun.“
„Du meinst wegen dem Besuch?“
„Ja, der Syrer erwartet heute Abend Gäste. Bis dahin muss
alles fertig sein. Ein richtiges Fest hat er mir gesagt . Wenn du
mich fragst, ist er nicht mehr bei Trost “
„Schlimmeres“, erwiderte Vell,, „ er ist schwer krank.“
„Das bin ich auch“, stellte Samuel fest, „ doch ich bin zu arm,
und zu alt,
als
das mir
noch eitle Flausen
in
den Kopf
kommen.“
„Und wenn er stirbt? Was wird dann aus uns?“
„Ich hoffe doch schwer, dass ich es noch vor ihm schaffe“, erwiderte er erheitert, „ der Rest hier wird sein Glück schon
finden. Und nun entschuldige mich junge Dame, ich muss
jetzt noch ein paar Hühner schlachten.“
Erstarrt sah Vell, wie er mit einem großen Beil in der Hand
aus dem Stall ging und befand, dass es wohl besser war, ihm
nicht zu folgen. Sie war alleine, das hatte sie begriffen.
Niemand konnte ihr helfen.
Als Martha am frühen
Mittag kam,
um
das
Essen
zu
bringen, sagte sie daher nichts. Es machte keinen Sinn, sie
zu beunruhigen. Davon abgesehen, machte es auch keinen
Unterschied. Bald schon würden sie alle am Grab ihres
Großonkels stehen und sie fragte sich, auf welche Weise sie
von ihm Abschied nehmen wollte. Vielleicht würde sie ab
heute mit ihm auf der Terrasse sitzen, oder ihm ab und an
eine Geschichte vorlesen. Es war nie zu spät, um mit einem
Menschen Frieden zu schließen. Nun hatte sie wenigstens
die Gelegenheit dazu.
Doch nicht heute. Heute war ein anderer Tag. Je mehr er
sich seinem Ende neigte, desto merkwürdiger wurde er.
Bereits am frühen Abend rollten die ersten Kutschen über
den Kiesweg. Sie hielten direkt vor dem Hauptportal. Die
Roben
der
Gäste verbargen
kostbare
Kleider
und die
Turmfrisuren der Damen waren auffallend voluminös. Vell
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