Aurora
Kiefer war taub.
»Und Stalin starb.« Rapawa schüttelte traurig den Kopf.
Dann beugte er sich plötzlich vor und stieß mit Kelso an.
»Auf den Genossen Stalin!«
»Auf den Genossen Stalin!« Sie tranken.
Und Stalin starb. Und alle waren von Trauer überwältigt. Das heißt, alle außer dem Genossen Berija, der vor den Tausenden von Trauernden auf dem Roten Platz seine Gedenkrede hielt, als verläse er eine Fahrplanansage der Eisenbahn, und hinterher mit den Jungs Witze darüber machte. Das sprach sich herum.
Also, Berija war ein schlauer Mann, viel schlauer, als Sie es sind, mein Junge – er hätte Sie zum Frühstück verspeisen können. Aber schlaue Leute machen alle denselben Fehler. Sie halten alle anderen Leute für dumm. Aber nicht alle anderen Leute sind dumm. Sie brauchen nur ein bißchen mehr Zeit, das ist alles.
Der Chef hatte geglaubt, er würde die nächsten zwanzig Jahre an der Macht sein. Er hielt sich gerade drei Monate.
Es war an einem Spätvormittag im Juni. Rapawa hatte Dienst mit der üblichen Mannschaft – Nadaraja, Sarsikow, Dumbadse – , als die Nachricht kam, daß in Malenkows Büro im Kreml eine Sondersitzung des Präsidiums stattfand. Und weil es sich um Malenkows Büro handelte, dachte der Chef sich nichts dabei. Wer war denn schon der dicke Malenkow? Der dicke Malenkow war ein Nichts, nur ein dämlicher Braunbär. Und der Chef führte Malenkow an einem Ring durch die Nase herum.
Deshalb trug er, als er in den Wagen stieg, um an der Sitzung teilzunehmen, nicht einmal eine Krawatte, sondern nur ein offenes Hemd und einen abgetragenen alten Anzug. Weshalb sollte er eine Krawatte umbinden? Es war ein heißer Tag, Stalin war tot, Moskau war voller Mädchen, und er würde zwanzig Jahre an der Macht sein.
Die Kirschbäume am hinteren Ende des Gartens waren kurz zuvor abgeblüht.
Sie kamen an Malenkows Gebäude an, und der Chef ging hinauf, um mit ihm zu reden, während die übrigen im Vorzimmer neben dem Eingang herumsaßen. Und dann erschienen, einer nach dem anderen, die großen Männer, all die Genossen, über die Berija hinter ihrem Rücken zu spotten pflegte – der alte »Steinarsch« Molotow, dieser fette Bauer Chruschtschow, der Tölpel Woroschilow und schließlich Marschall Schukow, der aufgeblasene Pfau mit seinem ganzen Lametta. Sie gingen alle nach oben. Nadaraja rieb sich die Hände und sagte zu Rapawa: »Also, Papu Gerassimowitsch, was hältst du davon, wenn du in die Kantine gehen und uns Kaffee holen würdest?«
Der Tag verging, und von Zeit zu Zeit wanderte Madaraja nach oben, um zu sehen, was sich tat, und er kam immer mit derselben Botschaft zurück: Die Sitzung dauert immer noch an. Kein Grund zur Aufregung. Es kam oft vor, daß das Präsidium stundenlang tagte. Aber gegen acht Uhr sah der Kommandant der Leibwache langsam besorgt aus, und um zehn, als der Sommerabend dunkelte, befahl er allen, ihm nach oben zu folgen.
Sie stürmten an Malenkows protestierenden Sekretären vorbei in den großen Sitzungssaal. Er war leer. Sarsikow versuchte zu telefonieren, aber die Leitung war tot. Einer der Stühle war umgekippt, und auf dem Fußboden um ihn herum lagen ein paar zusammengefaltete Papierfetzen, und auf jedem stand in roter Tinte und in Berijas Handschrift ein einziges Wort: »Alarm!«
Sie hätten unter Umständen kämpfen können, aber welchen Sinn hätte das gehabt? Die ganze Sache war ein Hinterhalt, eine Operation der Roten Armee. Schukow hatte sogar Panzer auffahren lassen – gleich zwanzig T 34, die er an der Rückfront von Berijas Haus postierte (wie Rapawa später erfuhr). Im Kreml selbst standen gepanzerte Fahrzeuge. Es war hoffnungslos. Sie hätten keine fünf Minuten durchgehalten.
Sie wurden auf der Stelle voneinander getrennt. Rapawa wurde in ein Militärgefängnis in einem der nördlichen Vororte gebracht, wo man nach Strich und Faden auf ihn einprügelte, ihn beschuldigte, kleine Mädchen beschafft zu haben, ihm Zeugenaussagen und Fotos der Opfer zeigte und schließlich eine Liste mit dreißig Namen, die Sarsikow (der große, kräftige, stolze Sarsikow – als was für ein »harter Bursche« hatte er sich doch herausgestellt) ihnen schon am zweiten Tag geliefert hatte.
Rapawa schwieg. Die ganze Sache widerte ihn an. Und dann, eines Abends, ungefähr zehn Tage nach dem Putsch – denn Rapawa konnte nie etwas anderes als einen Putsch darin sehen – , wurde er zusammengeflickt, durfte sich waschen, erhielt eine saubere Gefängnisuniform und
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