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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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    »Mr. Monk?« fragte sie und holte tief Luft. »Mr. William Monk?«
    Er blickte von seinem Schreibtisch auf und erhob sich. Seine Hauswirtin mußte sie durch den Vorraum eingelassen haben.
    »Ja, Ma'am?« sagte er fragend.
    Sie trat einen Schritt näher, ohne auf ihre ausladenden Reifröcke zu achten, die den Tisch streiften. Ihr Kleid war gut geschnitten und modisch, ohne zu auffällig zu sein, aber sie hatte sich anscheinend ziemlich hastig und achtlos angekleidet. Das Oberteil paßte nicht recht zum Rock, und die breite Schleife der Haube war mehr verknotet als gebunden. Ihr Gesicht mit der kurzen, starken Nase und dem tapferen Mund verriet beträchtliche Nervosität.
    Aber das war nichts Neues für Monk. Die Leute, die die Dienste eines Detektivs in Anspruch nahmen, waren fast immer in einer unangenehmen Situation, die zu ernst oder zu peinlich war, um ihr mit alltäglicheren Mitteln begegnen zu können.
    »Mein Name ist Genevieve Stonefield«, begann sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Mrs. Angus Stonefield«, ergänzte sie. »Ich komme wegen meines Mannes.«
    Bei einer Frau ihres Alters - er schätzte sie auf dreißig bis fünfunddreißig - ging es meist um einen unzulänglichen Hausangestellten oder einen kleineren Diebstahl, gelegentlich waren es auch Schulden. Die älteren Frauen kamen häufig, weil ein Kind auf Irrwege geraten war und vielleicht die Absicht hatte, eine nicht standesgemäße Ehe einzugehen. Aber Genevieve Stonefield war eine überaus attraktive Frau - nicht nur ihres warmen Teints und ihrer würdevollen Haltung wegen, sondern auch, weil Offenheit und Humor aus ihren Zügen sprachen. Er konnte sich gut vorstellen, daß die meisten Männer sie ausgesprochen anziehend fanden. In der Tat war es ihm instinktiv genauso ergangen. Aber die bitteren Erfahrungen vergangener Fehleinschätzungen ernüchterten ihn sofort.
    »Ja, Mrs. Stonefield«, erwiderte er, während er hinter seinem Schreibtisch hervor und in die Mitte des Raums trat. Das Zimmer war so eingerichtet, daß sich seine Gäste darin wohl fühlen konnten - dazu hatte Hester Latterly ihn überredet. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Er zeigte auf einen der großen, gepolsterten Sessel, die seinem eigenen auf dem rotblau gemusterten türkischen Teppich gegenüberstanden. Es war ein bitterkalter Januartag, und im Kamin loderte ein Feuer, das nicht nur Wärme, sondern auch eine gewisse Behaglichkeit ausstrahlte. »Erzählen Sie mir, was Sie beunruhigt und wie ich Ihnen Ihrer Meinung nach helfen kann.« Sobald es der Anstand gestattete, nahm er ihr gegenüber Platz.
    Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Röcke zu ordnen; wie sie zufällig gefallen waren, bauschten sie sich um ihre schmale Gestalt, so daß die Reifen schief standen und man einen ihrer schlanken, in hohen Stiefeln steckenden Knöchel sehen konnte.
    Nachdem sie sich mit sichtbarer Anstrengung zu dem Sprung ins kalte Wasser durchgerungen hatte, brauchte sie keine weitere Aufforderung, sondern fing sofort an zu sprechen. Dabei beugte sie sich ein wenig vor und blickte ihn ernst an.
    »Mr. Monk, um Ihnen meine Besorgnis begreiflich zu machen, muß ich Ihnen etwas von meinem Mann und seinen Lebensumständen erzählen. Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß ich auf diese Art und Weise Ihre Zeit strapaziere, aber ohne diese Kenntnisse würden die Dinge für Sie kaum Sinn ergeben.«
    Monk gab sich alle Mühe, den Anschein zu erwecken, als höre er zu. Es war ermüdend und aller Wahrscheinlichkeit nach völlig überflüssig, aber er hatte durch eine Reihe von Irrtümern gelernt, den Menschen zu gestatten, sich ihre Sorgen von der Seele zu reden, bevor sie auf den eigentlichen Zweck ihres Besuches zu sprechen kamen. Wenn es auch sonst zu nichts anderem nutze war, ließ es ihnen doch ein gewisses Maß an Selbstachtung in einer Situation, in der sie in einer zutiefst privaten Angelegenheit um Hilfe bitten mußten, um die Hilfe eines Mannes, dem sich die meisten von ihnen allein aufgrund der Tatsache, daß er es nötig hatte, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, gesellschaftlich überlegen fühlten. Die Gründe, die sie zu ihm führten, waren für gewöhnlich schmerzlich, und es wäre ihnen weit lieber gewesen, sie für sich behalten zu können.
    In seiner Zeit als Polizist wäre solches Feingefühl überflüssig gewesen, aber jetzt, da er kein Vertreter der Obrigkeit mehr war, hing seine Bezahlung ganz davon ab, wie hoch sein Klient seinen Erfolg bewertete.
    Mrs.

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