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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Schritten, wobei er den Schlüssel an der Schnur schwingen ließ.
    Fragen Sie mich nicht, wo wir hingegangen sind, mein Junge, denn das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Zuerst war da ein langer, teppichbelegter Korridor mit prächtigen Büsten auf Marmorsockeln, dann kam eine eiserne Wendeltreppe, die sie hinabsteigen mußten, und dann ein riesiger Ballsaal von der Größe eines Ozeandampfers, mit zehn Meter hohen Spiegeln und vergoldeten Stühlen an den Wänden. Schließlich, bald nach dem Ballsaal, kam ein breiter Korridor mit glänzenden gelbgrünen Wänden, einem Fußboden, der nach Bohnerwachs roch, und einer großen, schweren Tür, die Berija mit einem Schlüssel aufschloß, den er in einem Bund an einer Kette mit sich trug.
    Rapawa folgte ihm hinein. Hinter ihm wurde die Tür langsam durch ein Druckluftscharnier, das noch aus der Zarenzeit zu stammen schien, zugezogen.
    Es war kein umwerfendes Büro. Acht mal sechs Meter groß. Es hätte einem Fabrikdirektor in Wologda oder Magnitogorsk gehören können – es befanden sich darin lediglich ein Schreibtisch, auf dem zwei Telefone standen, ein kleiner Teppich auf dem Fußboden, ein Tisch und ein paar Stühle, ein Fenster mit zugezogenen Vorhängen. An der Wand hing eine dieser großen, rosafarbenen, aufrollbaren Landkarten der UdSSR – so wie die UdSSR damals eben noch existierte –, und neben der Karte befand sich eine weitere, aber kleinere Tür, auf die Berija sofort zusteuerte. Auch dafür besaß er einen Schlüssel. Die Tür öffnete sich zu einer Art Kabuff, in dem ein verrußter Samowar zu sehen war, eine Flasche armenischer Schnaps und irgendwelches Zeug zum Aufgießen von Kräutertee. Außerdem war da ein Wandsafe mit einer dicken Messingtür, worauf der Name des Herstellers stand – nicht in kyrillischen Buchstaben, sondern in irgendeiner westlichen Sprache. Der Safe war nicht sonderlich groß – fünfundzwanzig Zentimeter breit, wenn überhaupt. Quadratisch. Gut gebaut. Gerader Griff, auch aus Messing.
    Berija schien zu bemerken, daß Rapawa ihn betrachtete, und wies ihn grob an, nach draußen zu verschwinden. Fast eine Stunde verging.
    Während er auf dem Korridor stand, versuchte Rapawa, sich wach zu halten, indem er das Ziehen seiner Pistole übte, sich einbildete, jedes Knarzen in dem großen Gebäude wäre ein Fußtritt, jedes Stöhnen des Windes eine Stimme. Er versuchte sich den Generalsekretär vorzustellen, wie er in seinen Kavalleriestiefeln diesen breiten, gebohnerten Korridor entlangschritt, und dann versuchte er, dieses Bild mit der dahinsiechenden Gestalt in Einklang zu bringen, die – im eigenen, widerwärtigen Fleisch gefangen – draußen in Blischnjaja lag.
    Und wissen Sie was, mein Junge? Ich habe geweint. Vielleicht habe ich auch ein bißchen um mich selbst geweint – ich kann nicht abstreiten, daß ich fürchterliche Angst hatte –, aber im Grunde habe ich um den Genossen Stalin geweint. Ich habe um den Genossen Stalin mehr geweint, als ich es beim Tod meines Vaters getan habe. Und das gilt für die meisten Jungen, die ich kannte. Eine ferne Turmuhr schlug vier.
    Gegen halb fünf kam Berija endlich wieder zum Vorschein. Er trug eine kleine Ledertasche bei sich, die ziemlich vollgestopft war – bestimmt mit Papieren, aber vielleicht auch mit anderen Dingen, das vermochte Rapawa nicht zu sagen. Ihr Inhalt stammte vermutlich aus dem Safe, vielleicht auch die Tasche selbst. Vielleicht hatte die aber auch nur im Büro herumgelegen. Vielleicht – Rapawa konnte es nicht beschwören, aber es war durchaus denkbar – hatte Berija die Tasche jedoch schon bei sich gehabt, als er aus dem Wagen ausgestiegen war. Jedenfalls hatte er jetzt offenbar das, was er gesucht hatte, und er lächelte.
    »Er lächelte?«
    »Sie haben richtig gehört, mein Junge, ja – er lächelte. Aber es war kein freudiges Lächeln, es war eher…«
    »Wehmütig?«
    »Ja, eine Art wehmütiges Lächeln. Ein Lächeln, wie wenn er etwas einfach nicht fassen könnte. Fast so, als hätte er gerade beim Kartenspielen verloren.«
    Sie kehrten auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, nur stießen sie diesmal in dem von Büsten gesäumten Gang auf einen Wachtposten. Er fiel praktisch auf die Knie, als er den Chef sah. Aber Berija würdigte den Mann keines Blickes und ging einfach weiter – der unverfrorenste Diebstahl, der mir je untergekommen ist. Im Wagen sagte er nur: »Wspolny-Straße.«
    Inzwischen war es fast fünf Uhr, die ersten Straßenbahnen

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