Ausgesetzt
versuchte, die Farbe der Zimmerdecke zu erkennen. Er versuchte, all den Rissen zu folgen, die den Verputz über ihm wie ein Spinnennetz überzogen. Er hörte auf den schweren Atem seiner Zimmergenossen, links und rechts von ihm je drei dunkle Gestalten unter leichten Decken. Er versuchte, an nichts zu denken.
Er schloss die Augen. Sein Körper fühlte sich an, als säße er noch immer im fahrenden Bus, als schaukle er ein wenig hin und her. Der Raum begann sich langsam zu drehen.
Angestrengt versuchte er, die Stimme seiner Mutter zu hören. Klang sie ängstlich? Zornig? Oder traurig? Resigniert? Oder erleichtert, ihn loszuwerden?
Er konnte sie noch immer sehen – nicht ihr Gesicht, aber ihren Schatten, ihr Haar, das sein Gesicht streifte –, die Wärme ihres Atems an seinem Ohr fühlen. Doch der Klang, der Tonfall ihrer Worte wollte nicht deutlich werden.
Es war, als hätte er damals gewusst, was sie zu ihm sagte, aber sich geweigert, zuzuhören, hinzunehmen, was mit ihm geschah, und damit den Klang ihrer Stimme verloren. So hatte er nicht nur sie selbst, sondern gleichzeitig auch ihre Stimme verloren.
Walker war schon am Einschlafen, dennoch stellte er sich die alte Frage:
Warum?
Wenn seine Mutter ihn geliebt hatte, worauf der Brief und auch die Polizeiberichte hinzudeuten schienen – »gepflegtes Kind, neue Kleider, bei bester Gesundheit« –, und wenn sie den Brief und das Foto in seine Tasche gesteckt hatte, in der verzweifelten Hoffnung, jemand würde ihn identifizieren, dann musste das bedeuten, dass sie ihn dort nicht hatte zurücklassen wollen. Und wenn sie schon bei ihm gewesen war (er wusste, dass sie dagewesen war, wusste, dass diese Frau seine Mutter gewesen war, hatte nicht einen Tag, seit er gefunden worden war, daran gezweifelt), warum war sie nicht zurückgekommen? Welche Mutter, die von ihrem Kind getrennt war, einem Kind, das sie liebte, würde nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um es wiederzubekommen?
Eine neue Frage also, noch furchterregender als die erste. Nicht nur »Warum?«, sondern auch »Wer hat dich daran gehindert zurückzukommen, was ist dir zugestoßen?«
Und Walker dämmerte weg, griff nach einem Geist, zwei Geistern: einem dunkelhaarigen Kind, das sich an einen Schwimmreifen klammerte, und einer Frau mit Worten, doch ohne Stimme.
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4
1968
B obby streckte die Hand aus und knipste den mittleren Schalter an. Im Keller ging das Licht an. Darauf hatte er schon den ganzen Tag gewartet, den Stundenzeiger der Uhr im Klassenzimmer seiner fünften Klasse beobachtet, der sich mit quälender Langsamkeit über den 180°-Winkel zwischen neun und drei vorwärtsschob. Aber jetzt war er wieder zu Hause, allein. Er hatte sich ein Erdnussbutter-Sandwich gemacht, es langsam bestrichen und noch langsamer verspeist, um die Vorfreude zu steigern. Jetzt lag alles in seiner Hand.
Vater saß weit weg in seiner Rechenstube und zählte sein Geld. Mutter war auch irgendwo unterwegs und gab es aus. Oder besuchte Freunde. Oder tat dieses oder jenes gute Werk. Sie blieb tagsüber nicht gern daheim, um, wie sie es nannte, in dem riesigen Haus herumzurumoren. Und das Mädchen hatte heute frei.
Bobby stieg die verzogenen, nackten Holzstufen in den düsteren Keller hinunter. Sein Vater hatte das Kellergeschoss nicht wie andere Familien mit Fernseh- und Spielzimmer, Kamin und Bar ausgestattet. Er nannte es auch nicht Kellergeschoss, sondern »da unten«. Und er war der Meinung, die vierzehn Zimmer über der Erde seien ausreichend für jedermann. Also gab es da unten nur die Waschküche, den Vorratskeller, obwohl von Vorräten weit und breit nichts zu sehen war, einen übergroßen Kohlenkasten neben einem großen und relativ neuen Ölofen und eine Reihe von Lagerräumen. Einige dieser Räume waren vollgestellt mit Kartons und ausrangierten Möbeln, in dem Raum neben der Hintertreppe standen noch ein Kühlschrank und ein Gefrierschrank.
Bobby ging den schmalen Gang entlang, der sich über die ganze Länge des Kellers erstreckte, und machte dabei alle Lichter an, bis er die letzte Tür erreicht hatte.
Er konnte sie bereits hören. Was sagten sie? Er presste sein Ohr gegen den abblätternden Anstrich und lauschte. Es war eine Fremdsprache. Doch bestimmt sprachen sie über ihn. Über wen denn sonst? Machten sie sich über ihn lustig? Kicherten sie hinter seinem Rücken? Hassten sie ihn?
Bobby öffnete die Tür und machte Licht.
Es sah aus, als kniffen die Mäuse in dem plötzlichen
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