Ausgesetzt
was gab’s da zu lachen?
Walker lief die Church Street entlang und dachte wieder einmal daran, dass im Großraum Toronto fast drei Millionen Menschen lebten. (Diese statistische Größe war ihm nämlich sehr wichtig geworden, und er ließ sie sich immer wieder durch den Kopf gehen, in der Hoffnung, sie werde ihm doch irgendwann einmal ihre Bedeutung offenbaren.)
Drei Millionen Menschen. Und unter denen musste er eine Frau namens Kim ausfindig machen, eine Frau, die mittlerweile vierunddreißig war. Denn eines Nachts, als er ausgestreckt auf seinem Bett lag und zum x-ten Mal diesen Brief las, sprang ihm plötzlich etwas ins Auge, das ihm schon von Anfang an Rätsel aufgegeben hatte.
»Der große Vogel, in toto.« Darauf hatte er sich überhaupt keinen Reim machen können, und genau darüber zerbrach er sich deshalb auch am meisten den Kopf.
Lennie, das musste seine Mutter sein (hieß sie Lenore?), hatte offensichtlich gehofft, dass der Brief und das Foto der Polizei bei der Identifizierung helfen würden. Aber wenn das ihr Beweggrund war, warum dann so vage Anhaltspunkte? Die Polizei hatte sie, nach ihren Berichten zu urteilen, nicht zweckdienlich gefunden.
Es wurde ein Mary’s Cove erwähnt, eine kleine Bucht in der Nähe des Parry Sound. Man hatte sogar einen Polizisten hingeschickt, um nach dem Häuschen auf dem Foto zu suchen, aber nach einer langen Bootsfahrt stellte sich heraus, dass Mary’s Cove eine abgelegene, unbewohnte, von Felsen umzingelte Bucht war.
In den Berichten stand auch, dass die Einheimischen Stränden, Buchten und eben auch Landspitzen alle möglichen inoffiziellen Namen gaben, tausende Ortsnamen im ganzen Norden. Die Polizei hatte einfach nicht genügend Personal, sie alle zu überprüfen.
Aber nirgendwo ein Hinweis, dass man über »der große Vogel, in toto« gerätselt hatte.
Meinte Kim also tatsächlich einen großen Vogel? Toto? Sollte seine Mutter, diese Erscheinung (deren Gesicht er sich nicht in Erinnerung rufen konnte, so sehr er sich auch bemühte, nur ihr dunkles Haar, ihren Atem auf seiner Haut, die Worte, die sie gesprochen hatte), etwa nicht nur mit ihren beiden Männern im Schlepptau auftauchen, sondern auch noch mit einem Papagei auf ihrer Schulter? Unwahrscheinlich. Und warum »in«?
Meinte Kim, die Briefschreiberin, vielleicht das lateinische
in toto
, was »im ganzen« hieß? Nicht, dass Walker jemals Latein in der Schule gehabt hätte, aber irgendwie war ihm diese Redewendung eines Nachts durch den Kopf gegangen und er hatte sie im Wörterbuch nachgeschlagen. »Der große Vogel, im ganzen.« War das der Spitzname seiner Mutter, großer Vogel, und Kim sagte einfach nur, sie freue sich, dass Lennie heil zurückkehren würde? Gewiss, das passte im Ton zum restlichen Brief. Aber es war auch etwas weit hergeholt. Ein Teil des Problems war Kims Handschrift. Schönschreiben war offensichtlich nicht ihre Stärke gewesen.
Walker hatte das Wort
toto
so lange angestarrt, bis er, wie durch ein kleines Wunder, sah, was tatsächlich dastand.
Es war gar kein einziges Wort. Das erste »o« und das zweite »t« waren nicht verbunden, sie stießen nur irgendwie zusammen. Es waren zwei Wörter: »to« und »to«. Und als er sie erst einmal voneinander getrennt hatte, konnte er erkennen, dass das erste durchgestrichen war, der Querstrich auf dem zweiten »t« saß ein wenig höher als der auf dem ersten, und das zweite »o« war ein wenig größer als das erste. Großbuchstaben sollten das also sein. »Der große Vogel, in TO .« Die Leute aus Toronto nannten ihre Stadt üblicherweise TO . Das wusste sogar Walker.
Sein Vater und seine Mutter hatten die Absicht gehabt, nach Toronto zu fliegen, und zwar ziemlich bald, nachdem Kim diesen Brief geschrieben hatte. Neunzehn Tage später hatte man ihn gefunden, am 4. Oktober.
Walker sah sich noch einmal die zwei kleinen Mädchen auf dem Foto an. Das eine lächelte noch immer zurück. Das andere, dessen dunkles, nasses Haar sein Gesicht verdeckte, wandte sich immer noch ab. Plötzlich stand fest: Er musste nach Toronto.
Verblichene Goldlettern auf einer Strukturglastür an der Church Street hatten verkündet: Internationaler Verband der Jugendherbergen – Geschäftsstelle Kanada.
Walker lag auf einer Pritsche in einem modrig riechenden Raum, seine Brieftasche und einen Bankumschlag mit Reiseschecks im Wert von zweitausend Dollar unter seinem Kopfkissen, die alte Hockeytasche mit seinen Kleidern auf dem Boden neben ihm. Er
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