Außer Atem - Panic Snap
dann greife ich nach meiner Zeitschrift, dem
Wein-Anzeiger,
der auf dem Tresen vor mir liegt. Die Zeitschrift ist mindestens ein Jahr alt und vom vielen Durchblättern ziemlich zerfleddert, die Seiten zerknittert und an den Rändern ausgefranst, an der rechten unteren Ecke ein bräunlicher Kaffeefleck. Aber das macht nichts. Ich habe fünf weitere, makellose Exemplare zu Hause, ordentlich in Plastik verpackt. Ich schlage Seite zweiundneunzig auf und betrachte erneut das Foto eines großen blonden Mannes. Er steht in einem Weinberg, hinter ihm glänzen die gelben Blätter der Reben in der nachmittäglichen Herbstsonne wie Gold. Er ist ein eindrucksvoller Mann – von kräftiger Statur, schwerknochig und gebräunt, sein Haar so golden wie die Blätter der Weinreben. Und es gibt noch ein Bild von ihm in der Weinkellerei, zwanzig Jahre früher aufgenommen, darauf ist er viel schlanker, sein Gesicht weniger faltig. Er heißt James McGuane. In dem Artikel über die kleine Weinkellerei seiner Familie im Napa Valley steht, dass er dreiundvierzig Jahre alt ist. Als ich vor fünfzehn Jahren dem Tod überlassen wurde, war er gerade einmal achtundzwanzig.
Ich starre auf das Foto und bin gebannt von dem Gesicht. Er hat etwas Gelassenes, so als sei er sich seines Platzes in der Welt sicher und als gehöre die Welt ihm. Seine Augen, in der Sonne leicht zusammengekniffen, haben einen leise amüsierten Ausdruck. Der Name der Weinkellerei ist Byblos. Vor einem Jahr bin ich beim flüchtigen Durchblättern der Zeitschrift auf den Namen gestoßen – und erstarrt. Meine Hand begann zu zittern, immer wieder las ich das Wort:
Byblos.
Ich kannte den Namen. Er stand in irgendeiner Verbindung zu meiner Vergangenheit, doch in welcher, war mir schleierhaft. Der Landarbeiter, der mich an jenem Morgen gefunden hatte, sagte der Polizei, ich sei für kurze Zeit zu mir gekommen, hätte langsam die Augen geöffnet, leer vor mich hingestarrt und dann stöhnend die Silbe »bib« gemurmelt, ehe ich wieder ohnmächtig geworden sei. Als die Beamten mich später befragten und wiederholten, was ich von mir gegeben hatte, vermochte ich dieser Silbe keine Bedeutung zuzuordnen. Sie sagte mir nichts. Jetzt bin ich sicher, dass ich »Byblos« sagen wollte – ein sinnloser Versuch, den Menschen zu identifizieren, der mich geschlagen hatte. Bib, byb – beides wird gleich ausgesprochen. Viel wichtiger für mich war aber, dass ich eine starke Verbindung spürte, als ich den Artikel über Byblos in der Zeitschrift entdeckte. Ich habe ihn gelesen, immer und immer wieder. Kein Bild formte sich, keine Erinnerung tauchte in mir auf. Ich hatte einfach nur das sichere Gefühl, dass Byblos für mich in irgendeiner Weise bedeutungsvoll war.
Und den Mann – den hatte ich auch gekannt. Ich sah sein Foto an, und ein wirres Gefühl von Vertrautheit überkam mich, wie bei einem vagen Traum, den man nicht klar erkennt und der einem entgleitet, sobald man die Augen öffnet. Ich kannte James McGuane irgendwann. Dessen war ich mir vor einem Jahr sicher, dessen bin ich mir jetzt sicher. Dieser Mann ist ein Bindeglied zu meiner Vergangenheit, zu den ersten siebzehn Jahren meines Lebens. Er kann ein Freund sein, sogar ein Verwandter – oder er kann der Mensch sein, der mich sterbend dort zurückgelassen hat. Seit fast einem Jahr schaue ich mir dieses Foto immer wieder an, war bislang aber wie gelähmt und konnte nichts unternehmen. Ich habe erwogen, zur Polizei zu gehen, und eingesehen, wie dumm das wäre – wenn sie denjenigen, der mir das angetan hat, vor fünfzehn Jahren nicht gefunden haben, welche Chancen sollten dann jetzt noch bestehen? Ich kann mich noch immer an nichts erinnern, habe keinen Beweis, kann der Polizei nichts Handfestes berichten. Wenn James McGuane irgendwann einmal mein Freund war, dann habe ich nichts zu befürchten. Wenn er der Mann ist, der mich geschlagen und zum Sterben auf jenes Feld gelegt hat... nun, das werde ich selbst herausfinden müssen.
Ich lege die Zeitschrift beiseite. Die Imbissstube ist von Lärm erfüllt, von unaufhörlichem Tellerklappern, vom Geschrei eines Babys und lauten Stimmen, die sich Gehör zu verschaffen versuchen. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, und ich lebe inzwischen im Napa Valley. Ich habe meinem Arbeitgeber in Sacramento gekündigt und bin vor einem Monat hierher gezogen. Heute Vormittag trete ich einen neuen Job an.
Ich werde Köchin bei der Familie McGuane.
Die Arbeit verhilft mir zu der Nähe, die ich brauche.
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