Ausser Dienst - Eine Bilanz
gehörte. Noch für meine Eltern, die in Hamburg zum beamteten Mittelstand aufgestiegen waren, ist Innsbruck das am weitesten denkbare Urlaubsziel gewesen – ein einziges Mal im Leben waren sie dort, mit der Eisenbahn. Schon Wien oder gar Italien oder Frankreich lagen außerhalb ihrer Reichweite. Für meine Generation war es zunächst Hitlers Krieg, der uns zum erstenmal auf ausländischen Boden führte. Als dann im Laufe der fünfziger Jahre für viele eine Auslandsreise erschwinglich wurde, setzte ein in dieser Breite nie dagewesener kultureller Austausch mit dem Ausland ein. Damals öffnete sich unser geographischer und geistiger Horizont.
Noch in den ersten Nachkriegsjahren hatte man sich eine Marktwirtschaft und freie Preise kaum vorstellen können; es war normal, daß man nicht nur Geld, sondern auch eine Lebensmittelkarte brauchte, um Brot und Wurst zu kaufen. Es war normal, daß man Wohnraum von einer Behörde zugeteilt bekam. Auch der Schwarzmarkt war normal. Kurz vorher war es noch normal gewesen, Befehle zu befolgen und andere Befehle insgeheim zu umgehen.
Binnen weniger Jahre veränderten sich nicht nur die ökonomischen Umstände, sondern vor allem das gesellschaftliche Wertesystem. Mit einem Mal kamen geistige und moralische Maßstäbe zur Geltung, die vorher nicht öffentlich formuliert und propagiert worden waren. Das Zusammentreffen der ungewohnten Freiheiten und der aufgestauten Neugier mit dem Tatendrang, es besser zu machen, hat die Kriegsgeneration angetrieben. Wir hatten mit Glück überlebt. Nun endlich wollten wir unser Leben selber in die Hand nehmen. Aber dazu mußten wir sehr vieles erst noch lernen.
Ich erinnere, als sei es gestern gewesen, wie ich heute vor sechzig Jahren bei einem Besuch der National Gallery am Trafalgar Square in London in einem Saal voller Gemälde aus vergangenen Jahrhunderten plötzlich auf ein ganz modernes Bild stieß. Es war der erste El Greco meines Lebens (genaugenommen war es wohl ein Bild aus seiner Schule). Für mich, der ich außer den deutschen Expressionisten noch die französischen Impressionisten liebte (und dazu Caspar David Friedrich), war dieses 350 Jahre alte Bild, Christus im Garten Gethsemane , eine Offenbarung. Ein Jahrzehnt zuvor hatten die Nazis meine Idole Ernst Barlach und Käthe Kollwitz, Emil Nolde und Ernst-Ludwig Kirchner als »entartete Kunst« verächtlich gemacht – für mich ein Signal ihrer Verrücktheit. Jetzt begriff ich, daß meine künstlerischen Maßstäbe zwar nicht falsch gewesen waren, wohl aber allzu einseitig. Ich bin dem genialen Greco alsbald weiter nachgegangen und ihm über das ganze Leben treu geblieben. Später habe ich mit Goya und den japanischen Holzschnittmeistern Hokusai und Hiroshige ähnliche Erfahrungen gemacht. Bei aller Fremdartigkeit der asiatischen Kultur begriff ich unmittelbar: Auch in einer anderen Kultur kann große Kunst entstehen.
Ein vergleichbares Erlebnis hatte ich während des Krieges gehabt, als ich als Kurier eine Aktentasche voller Papiere nach Paris bringen mußte. Bis dahin kannte ich als Großstädte nur Hamburg, Bremen und Berlin. Das Bremer Rathaus, die backsteingotischen Kirchen Norddeutschlands und Schinkels Neue Wache Unter den Linden waren die mich prägenden architektonischen Erlebnisse gewesen. Nun wirkte die Stadt Paris auf mich als ein überwältigendes Gesamtkunstwerk: die großartigen Uferstraßen entlang der Seine, Notre Dame im Osten, der Arc de Triomphe im Westen, die Place de la Concorde, die großen und kleinen Paläste, die breiten Boulevards und die schmalen Bistros in den Nebengassen. Ich war ein junger Soldat der deutschen Besatzungsmacht, aber Paris weckte in mir das Gefühl neidvoller Bewunderung. In späteren Jahren bin ich häufig dort gewesen, ich habe dort Freunde gewonnen, aber der erste Eindruck hat sich immer wieder bestätigt. Trotz der unerfreulichen Banlieue, trotz der heute schon aus allen Nähten platzenden Ring-Autobahn Périphérique ist Paris für mich der Maßstab für eine Weltstadt geblieben. Die Kultur der Franzosen, das verstand ich schon bei meinem ersten, sehr kurzen Besuch, als ich zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt war, ist der unsrigen wohl ähnlich, sie ist aber doch sehr anders, und jedenfalls haben wir Deutschen keinerlei Grund zur Überheblichkeit.
Meine vielen Reisen haben mir bestätigt, wie wichtig es ist, das eigene Land von außen zu betrachten und seine Institutionen und Gesetze mit denen anderer Staaten zu
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