Autoimmunerkrankungen
bekommen. Wie und wofür wir aber diesen Überschuss nutzen, hängt viel stärker, als wir das bisher geglaubt haben, von den Erfahrungen ab, die wir als Kind und auch bereits vor der Geburt machen. Durch diese Erkenntnisse gewinnen die Erziehung und mehr noch das soziale Umfeld, in dem unsere Kinder aufwachsen, an Bedeutung. Es zeigt sich: Der Mensch ist ein komplexes Wesen, seinem Verständnis werden wir uns durch ein eindimensionales, kausales Denken im Sinne eines »Wenn – Dann« kaum nähern.
Wie geht es einem Menschen, der an einer chronischen Krankheit leidet? Fühlt er sich deshalb minderwertig? Auch Autoimmunkrankheiten können das Körperliche stark beeinträchtigen oder gar entstellen. Dadurch fühlen sich manche Patienten unzulänglich und ziehen sich zurück. Oft ist es eine gesellschaftliche Frage. Werden Mitmenschen ausschließlich nach ihrem Äußeren beurteilt? Viele Patienten konnte ich erleben, die an und mit ihrer Autoimmunerkrankung gereift sind. »Erst durch diese Krankheit bin ich mir meiner selbst bewusst geworden. Ich weiß jetzt, was wesentlich für mich ist.« Diese Aussage einer Patientin fasst den geistig-seelischen Reifeprozess beeindruckend zusammen. Herr Hingsen zitierte übrigens mit seiner Aussage den römischen Dichter Juvenal (60–127 n. Chr.) unvollständig. Ich vermute, dass Herr Hingsen nicht wusste, dass Juvenal die sportlichen Idole seiner Zeit parodierte, denn allzu häufig musste der Satiriker das Gegenteil seines Ausspruchs erleben. Und so heißt das vollständige Zitat aus den »Satiren« des römischen Dichters denn auch: »Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano.« Das bedeutet zu Deutsch: Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei.
Ich bin der Überzeugung, dass der Geist das Primäre, das Ursprüngliche ist. Zuerst war die Idee der Eisenbahn, dann wurde die Eisenbahn gebaut; zuerst kam mir die Idee zu einer Ferienreise, dann habe ich sie geplant und bin ins Tessin gefahren.
Wir sind heute in der westlichen Welt zunächst alle Materialisten, wir sind von dem überzeugt, was handgreiflich ist, was wir wahrnehmen und anfassen können. Das existiert. Daher vergessen wir häufig den hinter und in den Dingen stehenden Geist. Dem Wesen, der Idee, dem Impuls, der Information, die die Grundlage und der Ausgangspunkt für die Gestaltung der Materie (Ball, Haus, Auto usw.) sind, schenken wir zu wenig Beachtung. Wie wäre es, wenn wir den Geist im Stoff neu entdecken würden? Unser Leben würde reicher, vielfältiger und wahrer. Gerade auf diese Frage des Zusammenwirkens von Geist und Materie gibt heute die moderne Physik Antworten.
Hans-Peter Dürr, geb. 1929, war bis Herbst 1997 Direktor des Werner-Heisenberg-Instituts am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München. Er macht an mehreren Stellen – insbesondere auch in seiner kleinen Schrift »Für eine zivile Gesellschaft« – deutlich, dass wir heute wissen wollen, was Materie ist. Dabei gehen wir davon aus, dass das, was ist, Materie ist. Materie sei also das Grundlegende und die Form nur eine abgeleitete Eigenschaft. Um Materie ohne Form – also reine Materie – zu finden, hat man die Materie zerlegt. Man hat die Materie in Atome (die Unzerlegbaren) und kleinste Bestandteile gespalten.
Dabei stieß man auf ein überraschendes Ergebnis: Materie ist nicht aus Materie zusammengesetzt. Atome und ihre Bausteine haben nicht mehr die Eigenschaften von Materie. Und Prof. Dürr fasst zusammen: »Die ursprünglichen Elemente sind also Beziehungen der Formstruktur, sie sind nicht Materie. Wenn diese Nicht-Materie gerinnt, zu Schlacke wird, dann wird daraus etwas ›Materielles‹. Oder noch etwas riskanter ausgedrückt: Im Grunde gibt es nur Geist. Aber dieser Geist verkalkt und wird, wenn er verkalkt, Materie.«
Ausgerechnet die typischste Naturwissenschaft, die Physik, stellt heute fest: Das Ursprüngliche ist der Geist. Und dann gibt es Momentaufnahmen, in denen der Geist zur Materie wird. Es gibt nichts beständig Seiendes auf der Erde. Es gibt nur Wandel, Prozesse, Veränderung und Entwicklung. All dies sind Charakteristika des Mensch-Seins. Das Typischste, ja vielleicht Beste am Menschen ist seine Selbstentwicklung.
Der Dirigent und sein Orchester
Wenn wir das Ich des Menschen als sein Geistiges, Einmaliges, als sein Unverwechselbares auffassen, wenn wir davon ausgehen, dass das Ich der Verursacher der Fußspuren ist, die wir mit unserem Lebenslauf
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