Baby-Bingo
völlig fremden Welt. Der Abstand vom Alltag hilft, um für sich selbst wieder klarer zu sehen, was wirklich zählt im Leben. Indien macht einem jede Sekunde klar, dass man, ohne die Zukunft zu vernachlässigen, die Gegenwart auskosten muss. Das Land wirkt trotz des äußerlichen Trubels entschleunigend, man lernt hier schnell, sich nicht mehr über irgendetwas aufzuregen.
Händchenhaltend bummeln wir durch die im 16. Jahrhundert erbaute Stadt Fatehpur Sikri, die ehemalige Hauptstadt des Mogulreiches. Nach nur 14 Jahren wurde sie damals wegen Wassermangels wieder aufgegeben.
»Wie läuft es eigentlich bei dir mit Nanak?«, fragt mich Carla.
Wir sind nun seit einer Woche in Indien und besuchen beide jeden Tag den Guru. Aber getrennt, jeder für jeweils eine Stunde. Ja, auch ich habe mich zu weiteren Sitzungen mit ihm entschlossen. Ich spüre, dass mir diese Treffen sehr guttun.
Bisher haben Carla und ich jedoch wenig darüber gesprochen, was genau in dieser Stunde passiert. Es ist auch schwierig, Konkretes darüber zu erzählen. Für mich zumindest. Denn es stimmt, was Nanak uns am ersten Tag sagte. Die Veränderungen kommen nicht von außen. In gewisser Weise beobachtet er mich nur dabei, wie ich mich selbst verändere. Trotzdem würde diese Veränderung wohl nicht ohne seine Anwesenheit passieren.
»Er hat mich in der zweiten Sitzung gefragt, seit wann ich diese starken Rückenschmerzen habe«, sage ich. »Dabei hatte ich ihm auch davon gar nichts erzählt.«
»Und?«
»Du weißt ja, wie er spricht. Immer ein bisschen mysteriös. Er sagt, ich hätte wohl verlernt, aufrecht durchs Leben zu gehen. Sobald mir das wieder gelingen würde, wären auch die Schmerzen weg.«
»Also behandelt er den Schmerz gar nicht direkt?«
»Doch. Er sagt, er wolle meine eigene Heilkraft unterstützen, indem er seine Hände auf meinen Rücken legt.«
»Und, was spürst du dabei?«
»Hm, es ist wirklich so, als würde Strom aus seinen Händen in meinen Körper fließen. Ein Energiefluss, deutlich spürbar.« Ich muss lachen. »Wie ich schon spreche, ich passe mich ihm an.«
»Es ist wohl auch der falsche Weg, analysieren zu wollen, was da genau passiert. Man muss es einfach geschehen lassen.«
»Was geschieht denn bei dir?«, möchte ich wissen.
»Er legt mir auch manchmal seine Hände auf. Und er stellt mir Fragen, über meine Kindheit zum Beispiel. Ich soll die Antworten darauf aber nicht ihm geben, sondern nur mir selbst. Einmal hat er auch eine Atemübung mit mir gemacht. Oft sitzen wir uns nur in einer Art Meditation gegenüber, schweigend.«
»Na, das bist du ja von mir gewohnt.«
Nun muss auch Carla lachen.
»Auf jeden Fall bin ich dir dankbar für deine Idee hierherzukommen«, sage ich. »Ich habe das Gefühl, es tut auch uns als Zweierteam richtig gut. Was immer sich auch daraus ergeben mag.«
»Und das aus deinem Munde, wo du doch so skeptisch warst«, sagt Carla. »Aber ich sehe es genauso.«
Unser Gespräch wird unterbrochen. Eine Gruppe indischer Schüler drängt sich plötzlich lautstark um uns.
» May we take a picture? «, fragt uns ein Mädchen zaghaft.
» Sure «, sage ich verwundert. Aber auch etwas stolz, dass sie gerade uns fotografieren wollen, wo doch so viele Touristen unterwegs sind.
Ich stelle mich mit Carla in Positur, aber das Mädchen gibt mir ein Handzeichen, dass sie nur Carla auf dem Bild haben möchte. Links und rechts gerahmt von zwei Freundinnen der Fotografin.
»Vielleicht verwechseln sie mich mit irgendeinem Star«, sagt Carla zu mir, die sich die Aktion auch nicht erklären kann.
» Beautiful hair, may I touch? «, fragt eines der Mädchen und kichert etwas verlegen, während sie sich eine Strähne von Carlas Haar greift. Ja, vermutlich sind es Carlas lange blonde Haare, von denen diese jungen Inderinnen fasziniert sind.
»Mein indischer Superstar«, sage ich, als sich die Schulklasse wieder höflich verabschiedet hat. » May I touch? «
Ich greife mir auch eine Haarsträhne, küsse diese und dann Carla. Es ist auffallend, wir haben uns hier in einer Woche häufiger geküsst als in München in einem ganzen Monat.
»Vielleicht könntest du in Bollywood noch richtig groß Karriere machen.«
»Ich fürchte, dazu singe ich zu schlecht«, sagt Carla.
Wir stehen am Schalter für Sondergepäck am Flughafen von Neu-Delhi. Zehn Tage Indien liegen hinter uns. Zehn unbeschreiblich intensive Tage.
Neun davon haben Carla und ich es geschafft, keine Souvenirs zu kaufen. Was wirklich
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