BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
Kokon, der, pulsierend im Rhythmus seines schwarzen Blutes, zwischen ihm und dem Jungen stand.
Im Bann des Kindes
Spitz stach die Nase aus dem gelblichen Gesicht. Die Haut war hart, trocken, ledern geworden. Die Augen waren tief in die Höhlen zurückgesunken. Mariah war kaum Zwanzig und sah doch wie eine Hundertjährige aus. Die letzten Wochen hatten ihre Kräfte aufgezehrt. In Tagen hatte sie Jahre verloren. Dennoch hatte sie jedes einzelne mit Freuden hingegeben. Zu
seinem
Wohle...
Noch jetzt, da der Tod ihr nahe war, hing der Blick ihrer glanzlosen Augen an
ihm
. Und wenn noch irgendetwas darin war, so war es nichts als die Liebe zu ihrem Sohn. "Gabriel..."
Der Junge brachte sein kleines Gesicht dicht an ihres heran. Seine Lippen berührten die ihren, die längst kalt und blutleer waren. Und sogen ihren letzten Atemzug auf.
Gabriel schloss seiner Mutter die Lider, ehe er sich abwandte und das Totenzimmer verließ.
Lächelnd.
Clarence Mirvish ließ sich auf einem Felsblock nieder. Dabei nahm er den Rucksack ab, kramte nach seinen Rauchutensilien, und schließlich saß er pfeifeschmauchend da, eingehüllt in eine würzig duftende Wolke, die wie vom Himmel gefallen aussah. Der Blick seiner eisgrauen Augen wanderte über die wildromantische Landschaft des Cape Breton Hochlandes, so gemächlich, wie er selbst sie eben noch durchstreift hatte.
Mirvish genoss diese Momente, so wie er sie jedes Mal genoss, bevor die Touristen zu ihm aufgeschlossen hatten. In diesen Minuten gehörte dieser Teil seiner Heimat stets ihm allein. Er musste ihn nicht mit der Neugier all jener teilen, die in zunehmend größer werdender Zahl aus fast aller Welt nach Nova Scotia kamen, weil die Tourismusbranche die vom Meer umspülte kanadische Provinz mehr und mehr zu erschließen begann.
Clarence Mirvish hatte sich irgendwann vor der Wahl gesehen, seine Heimat entweder in die Hände der Fremden fallen zu lassen, die ihren Zauber über kurz oder lang – und vermutlich noch nicht einmal böswillig – zerstören würden, oder sich schützend zwischen die Urlauber und Nova Scotia zu stellen, einem Wächter gleich, der den Fremden zwar erlaubte, alles anzusehen, jedoch auch dafür Sorge trug, dass sie nichts "berührten".
Und so führte Mirvish die Fremden seit nunmehr einigen Jahren dreimal wöchentlich durch die Cape Breton Highlands, wies ihnen die majestätische Anmut der Berge und Tundren und zeigte ihnen – aus der Ferne – die ursprünglichsten Bewohner dieses herrlichen Landstrichs, Adler und Elche.
Dass er als Wanderführer auch mehr verdiente als in seinen vorherigen Jobs, war für Clarence Mirvish nur von allenfalls zweitrangiger Bedeutung gewesen. Aber es war in seine damalige Entscheidung sicher zu einem kleinen Teil mit eingeflossen.
All dies änderte jedoch nichts daran, dass er die Fremden nicht mochte. Nicht wirklich zumindest. Und er hütete sich, es sie tatsächlich spüren zu lassen. Die eine oder andere kleine Bosheit allerdings vermochte er sich dennoch nicht zu verkneifen.
Wie jene beispielsweise, dass er sich gelegentlich von der Gruppe "absetzte".
Im Laufe der Zeit hatte Mirvish einen speziellen Schritt entwickelt, der es im erlaubte, schneller voranzukommen, ohne dass er den Anschein erweckte, zu rennen. So ließ er die Touristengruppen oft zusehends hinter sich – natürlich nur dort, wo die Wege sicher waren – und erwartete sie dann in einiger Entfernung, mit gespielt vorwurfsvollem Blick und ein paar allgemeinen Bemerkungen über "verweichlichte Großstädter"...
So hockte er auch diesmal an einem jener Punkte, wo er auf die Touristen zu warten pflegte. Diesen Stein hier hatte er seiner besonderen Form wegen "Clarences Thron" getauft, und er hatte sich sogar eine kleine Geschichte dazu einfallen lassen. Dass schon sein Vater und Großvater und dessen Vater oft hier gesessen hätten und dass der Fels deshalb in den Familienbesitz übergegangen wäre.
Er erzählte diese Mär immer dann, wenn einer unter den Fremden war, der mit Beschwerden über seine Rücksichtslosigkeit und dergleichen drohten.
Diesmal jedoch würde Mirvish sie nicht erzählen müssen. Er hörte es am schleppenden und schleifenden Geräusch der Schritte, die sich ihm näherten. Und wenig später mischten sich erste keuchende Atemzüge hinein. Keiner dieser Leute würde noch genug Luft haben, um sich zu beschweren...
Clarence Mirvish sah lächelnd hinaus auf das wogende Grau des Atlantiks, wo das Licht des Tages
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