Bahnen ziehen (German Edition)
Schwimmerin, definiert. Damals habe ich fünf bis sechs Stunden täglich trainiert, sechs Tage die Woche, und dazwischen so viel wie möglich gegessen und geschlafen. An den Wochenenden habe ich entweder trainiert oder an Wettkämpfen teilgenommen. Ich war nicht die Beste; ich war relativ schnell. Ich trainierte, aß, reiste und duschte mit den Besten des Landes, aber ich war nicht die Beste; ich war ziemlich gut.
Mir gefiel, wie hart das Schwimmen auf diesem Niveau war – dass ich etwas Schwieriges und Ungewöhnliches leistete. Mir gefiel, dass meine Disziplin anerkannt war, respektiert wurde – auch wenn ich nicht immer das Richtige sagte, mich als Außenseiter fühlte, gab es etwas, worin ich gut war. Ich wollte glauben, dass ich begabt war; meine Schnelligkeit war der Beweis dafür. Obwohl ich gerne Wettkämpfe schwamm, war es nicht die Aussicht, die Schnellste zu sein, die Nummer eins oder zur Olympiade zu fahren, die mich motivierte.
Noch heute träume ich vom Training, von Wettkämpfen, von Trainern und schemenhaften Konkurrenten. Schwimmbäder ziehen mich an, alle Schwimmbäder, egal, wie klein oder trüb sie sind. Wenn ich heute schwimme, steige ich ins Wasser, als würde ich unbewusst eine alte Narbe berühren. Die Bahnen, die ich in meiner Freizeit ziehe, sind die Geister vergangener Wettkämpfe.
B YRON
Ich schicke eine E-Mail an einen meiner alten Trainer, Byron MacDonald, und frage ihn, ob ich beim Morgentraining im Schwimmbad der University of Toronto zusehen darf. Als ich komme, stehen Byron und seine Co-Trainerin Linda am tiefen Ende, jeder mit einer Kopie des Trainingsprogramms in der Hand. Sie sehen genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Byron hat immer noch die stolze Haltung eines verhinderten Roy Scheider. Linda mit dem nüchternen Pokerface fängt immer noch schnell zu lachen an.
Auch die Halle hat sich nicht verändert. Die Farbpalette ist für ein Schwimmbad ungewöhnlich: orange, braun und beige, mit den blauen Tupfen der Varsity Blues, der Universitätsmannschaft, auf Wimpeln, am Beckenrand und in den sieben Buchstaben TORONTO , gleichmäßig zwischen den acht Bahnen auf dem Grund des Schwimmbads platziert. Als ich für Byron schwamm, fragte ich mich, wie sich das Training von oben am Beckenrand anfühlt, wie es ist, warm und trocken in Turnschuhen und Shorts dort oben zu sitzen. Ich war immer neugierig auf die Langeweile, die ein Trainer möglicherweise erlebte, während der Rest von uns im Wasser Tausende von Metern Einschwimmen, Hauptteil und Ausschwimmen absolvierte. Beim Training vergeht die Zeit mit Präzision, jede Minute – jede Sekunde – wird gefühlt und gezählt. In anderen Worten, die Zeit vergeht langsam.
Daher bin ich, als ich selbst am Beckenrand stehe und dem Training zusehe, überrascht, wie schnell die Zeit in Wirklichkeit vergeht.
In den ersten vierzig Minuten sehe ich nicht einmal auf die Uhr. Der Anblick von Byrons Schwimmern, die durchs Wasser pflügen, hält mich in einer Art hypnotischem Bann. Byron steht neben mir und erzählt mir von den Plänen und Krisen einiger Schwimmer: Einer ist die größte Hoffnung des Teams für die kanadische Olympiamannschaft; ein anderer kämpft mit einer Essstörung; ein Junge, der beim Training zusieht, hat sich den Fuß gebrochen. Zwischen den Trainingseinheiten stellt Byron mich der Mannschaft vor und erklärt: »Leanne ist vor ein paar Jahren in unserem Team geschwommen.« Ich überschlage die Daten im Kopf. Es sind auf den Monat genau zwanzig Jahre.
Byron hat die analogen Stoppuhren mit den vier farbigen Zeigern durch kleine digitale ersetzt, die in den Ecken des Beckens angebracht sind. Zeitüberwachungskameras. Doch er benutzt immer noch Ausdrücke wie: »Wenn der Zeiger oben ist« oder »wenn der Zeiger einmal rum ist«, nämlich innerhalb von sechzig Sekunden. Seine Worte erinnern mich an den festen Makrogriff auf die Zeit, den ich als Schwimmerin hatte. Die Fähigkeit, aus Zehntelsekunden Stillleben zu machen.
Byron richtet meine Aufmerksamkeit auf einen Schwimmer, der hervorragende Wenden macht. Linda korrigiert den Rückenschlag eines Mädchens, erklärt, sie müsse mit der Schulter führen, nicht mit der Hand, und ich erinnere mich, wie mirdie gleiche Aufmerksamkeit zuteilwurde, erinnere mich an das Streben nach Perfektion, die ewige Wiederholung, an die gnadenlose Komplexität technischer Präzision, an guten Tagen durch das Training geschärft, anstatt mit der Anstrengung auszuleiern, wie es sich
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