Bahnen ziehen (German Edition)
massieren sich die Oberschenkel mit den Fäusten, lassen die Arme kreisen, trinken ausWasserflaschen, justieren die Trittbretter der Blöcke und ziehen sich die Riemen ihrer engen Wettkampfanzüge über die Schultern. Sie sind hibbelig, machen sich bereit.
Die Frau, die in den Vorläufen die beste Zeit geschwommen ist, startet auf Bahn vier. Die zweitbeste auf Bahn fünf, die dritte auf Bahn drei. Die anderen schwimmen in absteigender Reihenfolge auf den Bahnen sechs, zwei, sieben, eins und schließlich acht. Durch diese Belegung entsteht die umgekehrte V -Formation, die typisch für einen Wettkampf ist. Erreicht ein Schwimmer auf Bahn eins, zwei, sieben oder acht die Führung, wird er »Outside Smoke« genannt.
Der Sprecher stellt die Schwimmerinnen mit Namen vor, beginnend bei Bahn eins. Dann gibt der Schiedsrichter mit mehreren kurzen Pfiffen auf der Trillerpfeife den Schwimmerinnen das Zeichen, Kleidung und Schuhe abzulegen. Zu diesem Zeitpunkt dehnen sie sich ein letztes Mal, lassen die Arme kreisen, wackeln mit den Köpfen, bücken sich zum Becken, um sich mit Wasser zu benetzen, oder stehen ganz still da, die Hände an den Hüften. Ein langer Pfiff gibt das Zeichen, zum Startblock zu kommen und hinaufzusteigen. Im Publikum wird es still. Der Starter sagt durchs Mikrofon: »Auf die Plätze ...«, und die Schwimmerinnen beugen sich vor und halten still, mindestens einen Fuß an der vorderen Startblockkante.
Hier eine kurze Skizze jeder der angespannten Figuren: Bahn eins ist eine achtzehnjährige Vegetarierin, die Spinnen als Haustiere hält. Ihre Mutter starb an Krebs, als sie zwölf war. Bahn zwei, siebzehn, leidet unter starken Allergien und chronischen Ekzemen, doch wegen der stichprobenartigen Doping-Kontrollen hält sie sich mit Antihistaminika und topischen Steroiden zurück. Bahn drei hat heute ihren neunzehnten Geburtstag, doch ihr Freund, der in Alberta studiert, hat ihn vergessen. Der beste Freund ihres kleinen Bruders – der in sie verliebt ist, seit sie einmal auf eine Zimmerpflanze zeigte und »Was ist das? Mais?« fragte – hat ihr gratuliert, als sie aus der Umkleide kam, aber sie hat ihn nicht gehört. Bahn vier, siebzehn Jahre, weiß, dass auf der Tribüne ein Trainer der University of Michigan steht und sie rekrutieren will, und ihre Hände zittern unkontrolliert. Bahn fünf, neunzehn, musste mehrmals gähnen. Das ist kein gutes Zeichen, denn gewöhnlich heißt es, dass sie eine schlechte Zeit schwimmen wird. Bahn sechs, ebenfalls neunzehn, hat eine halbe Stunde vor dem Wettkampf ein Snickers statt eines Power-Riegels gegessen, und jetzt klebt ihr Karamell in einem der Backenzähne oben links. Die letzten Minuten hatte sie mit der Zunge daran herumgefummelt, aber jetzt hat der Tunnelblick eingesetzt und sie hat es vergessen. Im Stillen murmelt sie okay, okay, okay vor sich hin. Die Eltern von Bahn sieben lassen sich gerade scheiden. Letztes Wochenende, als ihr Vater kam, um sie und ihre beiden kleinen Brüder abzuholen, hatte er seine neue Freundin dabei, Lorraine. Als ihre Mutter Lorraine aus dem Wagen steigen sah, ist sie völlig ausgerastet. Sie kam aus dem Haus gerannt, schrie Obszönitäten und riss Lorraine das halterlose gelbe Oberteil herunter. Der Vater sagte nur ganz ruhig: »Steig wieder ein, Lorry.« Bahn sieben hat das Ganze von ihrem Fenster aus beobachtet. Sie ist fünfzehn. Bahn acht stellt sich weiße Leere vor; nachdem sie kurz vor dem Wettkampf die Mediationsübungen ausprobiert hat, die sie von ihrem Stiefvater gelernt hat, nimmt sie die Geräusche in derHalle wie durch eine Wattewolke wahr. Mit ihrer Mannschaftskameradin auf Bahn vier spricht sie nicht mehr, seit Bahn vier vor zwei Wochen auf einer Party mit dem Ex-Freund von Bahn acht geknutscht hat. Sie ist siebzehn.
Als die Schwimmerinnen ganz still stehen, gibt der Starter das Startsignal, ein lautes Hupen. Die Schwimmerinnen werfen sich gleichzeitig nach vorne, vollziehen im Flug eine Art minimalen Liegestütz, gefolgt von einer kleinen Hüftbeuge, und tauchen ins Wasser ein. Bahn fünf, die gegähnt hat, gelingt der beste Start, und sie tritt kurz vor dem Mittelfeld ins Wasser ein. Mitte der 1990er hat die Fédération Internationale de Natation (oder FINA , der internationale Dachverband des Schwimmsports) eine Null-Toleranz-Fehlstartregel erlassen. Startet jemand vor dem Signal, geht der Wettkampf weiter, und die Disqualifizierung erfolgt per Lautsprecheransage nach dem Ende.
Der Wettkampf, hundert Meter
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