Bahnen ziehen (German Edition)
an den meisten Tagen anfühlte. Die Technikübungen machten mir dann am meisten Spaß, wenn ich das Wasser in Zentimetern spürte und verstand, wie die winzigen Korrekturen und Winkel zusammenwirkten, um meinen Körper noch effizienter nach vorn zu schieben. So bewegten wir uns langsam im Becken auf und ab, Pullbuoy zwischen den Knien, nur auf Hände und Handgelenke konzentriert, oder beim Rückenschwimmen die eine Hand so lange zur Decke gestreckt, bis die andere gleichzog. Mir gefielen die Hydrodynamik der Körper, die Strömungen und Wirbel, die Wiederholung, der Feinschliff des Schwimmens.
Byron führt mich durch die Neuerungen, die der Sport in den letzten zwanzig Jahren erfahren hat. Er illustriert jedes Detail – Hightech-Schwimmanzüge, mit Sensoren versehene Startblöcke, Fehlstartregeln – mit Anekdoten voller wissenswerter Kleinigkeiten. Er lässt Namen und Jahre einfließen, gibt herzzerreißende Geschichten von Disqualifikationen und Niederlagen wieder, setzt ein bisschen Klatsch drauf, gibt seine Kommentare zu Erfindungen und zur Berichterstattung ab – ein geborener Erzähler. Ich frage ihn, ob schon andere den Vergleich mit seinem Namensvetter Lord Byron gezogen hätten, den Wasser liebenden Poeten und Durchschwimmer des Hellespont. Er lacht und sagt nein, der einzig passende Zeitpunkt dafür sei vielleicht 1972 gewesen, als er bei den Olympischen Spielen in München für Kanada geschwommen ist.
SCHWIMMSTUDIEN
F INALS
An einem regnerischen Novembernachmittag fahre ich mit meinem gemieteten Ford Focus zum Etobicoke Olympium und sehe mir das Final einer Landesmeisterschaft an.
Der einfachste Weg, die isolierte, feuchte, abgeschiedene und weitgehend undokumentierte Welt des Leistungsschwimmens zu beschreiben, ist, zu erklären, wie das Final einer Meisterschaft abläuft.
Ich sitze mit Linda und Byron weit oben auf der Holztribüne. Die geriffelten Sitzbänke sehen genauso aus wie vor zwanzig Jahren: Es herrscht ein Durcheinander wie in den Schubladen einer riesigen Kommode: herumliegende Matchbeutel, knallbunte Handtücher, feuchte Schwimmer, schwitzende Trainer, Wettkampfprogramme, Papiere und Kleider. Und Essen. Zwei Schwimmer knabbern Rohkost aus einer Pappschachtel. Ein Trainer schält eine Orange. Ein Mädchen stopft sich mit Studentenfutter voll, während ein Junge ein in Folie gewickeltes Päckchen öffnet, sich mit einem Plastikmesser ein Stück Chocolate-Chip-Bananenbrot abschneidet und geistesabwesend darauf herumkaut. Die Bänke sind mit Müsliriegelverpackungen und leeren Wasserflaschen übersät. Ein anderer Junge trinkt einen frischen, schmutzigbraunen Proteinshake, von den Klingen des Mini-Mixers tropft es auf seine Füße. Leuchtend blaue und grüne Sportgetränke stecken in Turnschuhen, die auf Mathematikbüchern stehen, auf iPads und iPods, und T-Shirts. Sprechenden T-Shirts. Sie sprechen im Testosteron-Ton von Actionfilmtrailern, aufgeputscht und motivierend. Direkt vor mir proklamieren die Rücken von drei Schwimmern: SIEH DAS UNSICHTBARE / BERÜHRE DAS UNGREIFBARE / ERREICHE DAS UNERREICHBARE; WACHSE MIT DER HERAUSFORDERUNG; UM WEITERZUKOMMEN, MUSST DU DAS UNMÖGLICHE VERSUCHEN . Weiter unten auf der Tribüne versichert mir ein Vierter: EIN CHAMPION STEHT NIE ALLEIN AUF DEM PODIUM .
Es ist ein Langbahn-Wettkampf, das heißt, die Wettkämpfe werden auf 50-Meter-Bahnen ausgetragen, nicht auf den 25-Meter-Bahnen, die in kanadischen Schwimmbädern eher üblich sind. Wettkämpfe, die in 25-Meter- oder 25-Yard-Becken stattfinden, werden Kurzbahn genannt.
Der Schwimmkalender ist in zwei Halbjahre aufgeteilt. Die Kurzbahn-Saison von September bis März und die Langbahn-Saison von April bis August. Beide Halbjahre gipfeln in Landesmeisterschaften wie dieser, die allen Altersklassen offenstehen, mit Vorläufen am Morgen und den Finals am Abend. Die Qualifikationszeiten werden von Swimming Canada vorgegeben, dem nationalen Schwimmverband. Gewöhnlich handelt es sich um die sechsunddreißigstbeste Zeit in der jeweiligen Disziplin bei der Landesmeisterschaft des Vorjahrs.
Aufgrund dieser Vorgaben – auf Bezirks-, Landes- und internationaler Ebene – sind die Ziele der Schwimmer zeitgebunden, ihre Anstrengungen individuell, nicht gegen einen Gegner oder eine Mannschaft gerichtet. Die Leistungen werden von der leidenschaftslosen Stoppuhr beurteilt.
Als Schwimmerin sah ich bei den Vorläufen vertraute Gesichter, doch ich kannte ihre Zeiten – in absteigenden
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