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Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber

Titel: Bartleby, der Schreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Melville
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Wort zu sagen, und ihn schimpflich hinausgeworfen. Aber Bartleby hatte etwas an sich, was mich nicht nur seltsam entwaffnete, sondern auch auf eine wunderliche Art rührte und in Verwirrung brachte. Ich begann, ihm vernünftig zuzureden.
    »Es sind Ihre eigenen Kopien, die wir durchsehen wollen. Ihnen wird dadurch Arbeit erspart, weil eine Durchsicht für Ihre vier Schriftstücke genügt. Es ist allgemein so üblich. Jeder Kopist ist verpflichtet, beim Durchsehen seiner Kopie zu helfen. Stimmt das etwa nicht? Wollen Sie nicht sprechen? Antworten Sie!«
    »Ich möchte nicht«, erwiderte er in einem flötenartigen Ton. Mir schien, daß er, während ich mit ihm sprach, jede meiner Feststellungen sorgfältig erwog, den Sinnvöllig erfaßte, die unwiderlegbare Schlußfolgerung nicht bestreiten konnte, doch gleichzeitig eine übergeordnete Erwägung ihn bestimmte, mir auf diese Weise zu antworten.
    »Sie sind also entschlossen, meiner Aufforderung nicht nachzukommen – einer Aufforderung, die dem allgemeinen Brauch und dem gesunden Menschenverstand entspricht?«
    Er gab mir kurz zu verstehen, daß ich in diesem Punkte richtig geurteilt hätte. Ja, sein Entschluß sei unwiderruflich.
    Es ist nicht selten der Fall, daß ein Mensch, wenn ihm auf eine noch nie dagewesene und kraß der Vernunft widersprechende Weise entgegengetreten wird, in seiner eigenen, simpelsten Überzeugung zu schwanken beginnt. Er beginnt gewissermaßen dunkel zu argwöhnen, daß alles Recht und alle Vernunft, so verwunderlich es auch sein mag, auf der anderen Seite seien. Wenn unbeteiligte Personen anwesend sind, wendet er sich folglich an sie, um bei ihnen Unterstützung für sein eigenes, ins Wanken geratene Denken zu finden.
    »Turkey«, sagte ich, »was meinen Sie zu dem, was ich gesagt habe? Habe ich nicht recht?«
    »Mit Verlaub, Sir«, sagte Turkey in seinem mildesten Ton, »ich meine, Sie haben recht.«
    »Nippers«, sagte ich, »was meinen Sie dazu?«
    »Ich meine, ich würde ihn aus der Kanzlei hinauswerfen.« – (Der Leser von feiner Wahrnehmung wird hier bemerken, daß Turkey seine Erwiderung, da es Vormittagist, in höfliche und ruhige Worte kleidet, Nippers dagegen gereizt antwortet. Oder, um einen früheren Satz zu wiederholen, Nippers’ üble Laune hatte Dienst und Turkeys dienstfrei.)
    »Ginger Nut«, sagte ich in der Absicht, auch die geringste Stimme für mich zu gewinnen, »was meinst du dazu?«
    »Ich meine, er ist ein bißchen übergeschnappt, Sir«, erwiderte Ginger Nut grinsend.
    »Sie hören, was die anderen sagen«, rief ich, zum Wandschirm gewandt, »kommen Sie hervor und tun Sie Ihre Pflicht!«
    Doch er würdigte mich keiner Antwort. Ich überlegte einen Augenblick in großer Verlegenheit. Doch wieder drängte die Arbeit. Ich beschloß abermals, die Erwägung dieser schwierigen Frage auf eine spätere Mußestunde zu verschieben. Mit etwas Mühe brachten wir es fertig, die Schriftstücke ohne Bartleby durchzusehen, obwohl Turkey alle paar Seiten ehrerbietig seine Meinung von sich gab, dieses Verfahren weiche ganz vom Üblichen ab, während Nippers, der in dyspeptischer Nervosität auf seinem Stuhle hin und her rückte, dann und wann zwischen den zusammengebissenen Zähnen Verwünschungen gegen den störrischen Esel hinter dem Wandschirm hervorzischte. Und was ihn (Nippers) angehe, so sei es das erste und letzte Mal, daß er ohne Bezahlung die Arbeit eines anderen verrichte.
    Unterdessen saß Bartleby in seiner Einsiedelei, blind für alles, außer für seine eigene, seltsame Arbeit dort.
    Einige Tage vergingen, während deren der Schreiber mit einer anderen langwierigen Aufgabe beschäftigt war. Sein jüngstes ungewöhnliches Verhalten veranlaßte mich, genau auf seine Eigenheiten zu achten. Ich beobachtete, daß er nie zum Essen ging, ja daß er nie irgendwo hinging. Bisher hatte er sich noch nie, soviel ich selbst feststellen konnte, aus der Kanzlei entfernt. Er war in seiner Ecke eine ewige Schildwache. Doch bemerkte ich, daß Ginger Nut gegen elf Uhr morgens auf die Öffnung in Bartlebys Wandschirm zutrat, als sei er durch einen stummen Wink, den ich von meinem Platze aus nicht sehen konnte, dorthin gerufen worden. Der Junge verließ dann, mit ein paar Pence klimpernd, die Kanzlei und kehrte mit einer Handvoll Ingwernüssen zurück, die er in der Einsiedelei ablieferte, wobei er zwei der Gebäckstücke für seine Mühe erhielt.
    Er ernährt sich also von Ingwernüssen, dachte ich; niemals ißt er richtig zu Mittag; er

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