Bartleby, der Schreiber
widersetzte. Ich erinnerte mich, daß Bartleby nie die Kanzlei verließ.
»Bartleby«, sagte ich, »Ginger Nut ist nicht da; gehen Sie bitte eben zum Postamt hinüber (es war ein Weg von nur drei Minuten), und sehen Sie nach, ob für mich etwas da ist.«
»Ich möchte lieber nicht.«
»Sie wollen nicht?«
»Ich möchte nicht.«
Ich wankte zu meinem Pult und saß da in tiefemNachdenken. Meine blinde Hartnäckigkeit stellte sich wieder ein. Gab es noch etwas anderes, wodurch ich es erreichen konnte, von diesem mageren, mittellosen Wicht – meinem bezahlten Angestellten – schimpflich zurückgewiesen zu werden? Was, an völlig Vernünftigem, gibt es noch, das zu tun er mit Sicherheit ablehnen wird?
»Bartleby!«
Keine Antwort.
»Bartleby!« Diesmal mit lauterer Stimme.
Keine Antwort.
»Bartleby!« brüllte ich.
Genau wie ein Geist, in Übereinstimmung mit den Gesetzen magischer Beschwörung, erschien er beim dritten Anruf am Eingang seiner Einsiedelei.
»Gehen Sie nach nebenan und sagen Sie Nippers, daß er zu mir kommen soll!«
»Ich möchte nicht«, sagte er ehrerbietig und langsam und verschwand sachte.
»Schon gut, Bartleby«, sagte ich in einem ruhigen, gelassen strengen, beherrschten Tone, der die unabänderliche Absicht einer schrecklichen Vergeltung in naher Zukunft andeutete. Im Augenblick war ich auch halb zu etwas Derartigem entschlossen. Da es aber auf die Stunde des Abendessens zuging, hielt ich es, im ganzen gesehen, für das beste, meinen Hut aufzusetzen und für diesen Tag nach Hause zu gehen, gequält von Sorge und innerer Unruhe.
Soll ich es gestehen? Die ganze Angelegenheit endete damit, daß es bald eine feststehende Tatsache in meinerKanzlei wurde, daß ein blasser junger Schreiber, namens Bartleby, dort ein Pult hatte; daß er zum üblichen Satz von vier Cent je Folioseite (einhundert Wörter) Abschriften für mich anfertigte, er aber dauernd davon befreit war, die von ihm geleistete Arbeit durchzusehen, welche Aufgabe Turkey und Nippers übertragen wurde, zweifellos in Anerkennung ihres größeren Scharfsinns; überdies besagter Bartleby nie und unter keinen Umständen auch nur auf den geringfügigsten Botengang geschickt werden sollte und daß es sich, sogar wenn man ihn dringend darum bäte, etwas Derartiges zu übernehmen, von selbst verstand, daß er es lieber nicht tun, mit anderen Worten, daß er es klipp und klar ablehnen würde.
Mit den dahingehenden Tagen söhnte ich mich beträchtlich mit Bartleby aus. Seine Stetigkeit, seine Freiheit von allem Müßiggang, sein unablässiger Fleiß (außer wenn es ihm beliebte, sich hinter seinem Wandschirm im Stehen einer Träumerei hinzugeben), seine überaus stille Art, sein unter allen Umständen gleichbleibendes Benehmen machten ihn zu einer wertvollen Erwerbung. Ein Hauptvorzug bestand darin: Er war immer da – der erste am Morgen, ununterbrochen den ganzen Tag, und der letzte am Abend. Ich setzte ein merkwürdiges Vertrauen in seine Ehrlichkeit. Meine wertvollsten Schriftstücke hielt ich in seinen Händen für völlig sicher. Manchmal konnte ich es allerdings beim besten Willen nicht vermeiden, daß ich seinetwegen einen plötzlichen Wutanfall bekam. Denn es war äußerst schwierig, sich die ganze Zeit die seltsamen Eigentümlichkeiten, Vorrechteund unerhörten Freiheiten gegenwärtig zu halten, die von seiten Bartlebys die stillschweigenden Bedingungen dafür waren, daß er in meiner Kanzlei blieb. Hin und wieder forderte ich im Eifer, eine dringliche Sache schnell zu erledigen, versehentlich Bartleby in einem knappen, hastigen Tone auf, sagen wir, seinen Finger auf den Anfang des Knotens eines roten Bandes zu halten, mit dem ich Schriftstücke zusammenschnüren wollte. Natürlich ertönte unweigerlich hinter dem Wandschirm die übliche Antwort: »Ich möchte nicht«; und wie konnte sich da ein menschliches Wesen, behaftet mit den allgemeinen Schwächen unserer Natur, einer bitteren Klage über soviel Verstocktheit – soviel Unvernunft enthalten! Doch jede weitere derartige Zurückweisung, die ich erfuhr, trug nur dazu bei, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß ich das Versehen wiederholte.
An dieser Stelle ist zu sagen, daß es, entsprechend der Gewohnheit der meisten Anwälte, die Räumlichkeiten in dichtbevölkerten Kanzleigebäuden haben, mehrere Schlüssel zu meiner Tür gab. Einen hatte eine Frau, die im Dachgeschoß wohnte und meine Räume einmal wöchentlich scheuerte und täglich fegte und Staub darin wischte.
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