Baudolino
brächen sich die Sonnenstrahlen in einem
Gewimmel von mineralischen Atomen.
Als erster begriff Rabbi Solomon: »Das ist der Sambatyon!«
rief er. »Also sind wir unserem Ziel nicht mehr fern!«
Es war tatsächlich der steinerne Fluß, und das wurde ihnen klar, als sie an sein Ufer gelangten, betäubt von dem brüllend lauten Getöse, in dem sie kaum ihr eigenes Wort verstanden, geschweige denn das der anderen. Es war ein majestätischer Strom von Steinen und Erdklumpen, die unaufhörlich
vorbeizogen, und in dieser Flut konnte man große unförmige Brocken erkennen, unregelmäßige Platten,, schneidend wie Klingen, breit wie Grabsteine, und dazwischen Kies, Fossile, Baumwipfel, Klippen und große Späne.
Mit gleichbleibender Geschwindigkeit, als würden sie von einem heftigen Wind getrieben, purzelten Kalksteinblöcke übereinander, große Schiefersplitter türmten sich darüber, um immer dann ihren Ansturm zu mildern, wenn sie auf träge Kiesfluten stießen, während runde Kiesel, glattpoliert wie von
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Wasser durch ihr Dahingleiten zwischen größeren Steinen, in die Luft sprangen, mit trockenem Klacken zurückfielen und von Strudeln erfaßt wurden, die sie selbst durch ihr
Aneinanderstoßen erzeugt hatten. Inmitten und über dieser Anhäufung von mineralischen Massen bildeten sich Fontänen von Sand, Böen von Gips, Wolken von Steinchen,
Schaumkronen von Bimssand und Bäche von Mörtel.
Da und dort Spritzer von Alabasterglas oder Hagelschauer von Kohlen, und dann mußten die Reisenden sich das Gesicht
bedecken, um nicht getroffen zu werden.
»Was für ein Tag ist heute?« schrie Baudolino zu seinen Gefährten. Und Solomon, der gewissenhaft jeden Sabbat
verzeichnete, erinnerte daran, daß die Woche gerade erst begonnen hatte und es noch mindestens sechs Tage dauern würde, bis der Fluß das nächste Mal stillstehen würde. »Und wenn er dann stillsteht, kann man ihn nicht überqueren, ohne die Sabbatruhe zu verletzen«, schrie er verzweifelt. »Oh, warum hat der Herr, immerdar sei gesegnet der Heilige, in seiner Weisheit nicht gewollt, daß dieser Fluß am Sonntag stillsteht, wo doch ihr Gojim so unfromm seid, daß ihr die Sonntagsruhe mit Füßen tretet!«
»Mach dir keine Gedanken über den Sabbat«, brüllte
Baudolino zurück, »wenn der Fluß stillstehen würde, wüßte ich schon, wie ich dich hinüberbekäme, ohne daß du eine Sünde begehen mußt. Man müßte dich bloß auf ein Maultier packen, während du schläfst. Das Problem ist, wie du selbst gesagt hast: Wenn der Fluß innehält, erhebt sich eine Feuerwand am Ufer, und wir stehen wieder genauso dumm da... Also hat es keinen Zweck, hier sechs Tage zu warten. Gehen wir flußaufwärts zur Quelle, vielleicht gibt es einen Übergang irgendwo hinter ihr.«
»Was, was?« schrien die anderen, die kein Wort verstanden hatten, aber als sie ihn dann losreiten sahen, folgten sie ihm in der Hoffnung, daß er eine gute Idee hatte. Es war jedoch eine
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miserable, denn sie ritten sechs Tage und sahen zwar, wie sich das Flußbett verengte und der Fluß allmählich zu einem
Wildbach und dann zu einem Bächlein wurde, aber zur Quelle gelangten sie erst am fünften Tag, nachdem bereits seit dem dritten eine Kette sehr hoher Berge am Horizont aufgetaucht und immer näher gerückt war, um schließlich fast senkrecht über den Reisenden aufzuragen, so daß sie kaum noch den Himmel sahen, eingezwängt in einen immer enger werdenden Kamin ohne
jeden Ausgang, von dem aus man hoch, hoch oben nur ein kaum schimmerndes Wölkchen erblickte, das am höchsten Gipfel jener Höhen nagte.
Hier, aus einer Spalte zwischen zwei Bergen, fast einer Wunde, sah man den Sambatyon entspringen: Ein Brodeln von Sandstein, ein Gurgeln von Tuff, ein Tröpfeln von Kalkstein, ein Klackern von Keilen und Splittern, ein Kollern von sich verklumpendem Erdreich, ein Scharren und Schieben von
Schollen, ein Regen von Ton und Lehm verwandelten sich
allmählich in einen gleichmäßigeren Fluß, der seine Reise zu irgendeinem grenzenlosen Sandozeari begann.
Unsere Freunde versuchten einen Tag lang, die Berge zu
umgehen und einen Paß oberhalb der Quelle zu finden, aber vergebens. Schlimmer noch, sie wurden von jähen Erdrutschen bedroht, die sich vor die Hufe ihrer Pferde ergossen, sie mußten einen längeren Umweg nehmen, wurden von der Nacht
überrascht an einem Ort, wo ab und zu brennende
Schwefelbrocken den Hang herabgerollt kamen, weiter vorn wurde die Hitze
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