Baudolino
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40. KAPITEL
BAUDOLINO IST NICHT MEHR DA ........................... 651
GEGEN DAS TOGATRAGEN
Mit großem Überdruß erfüllen mich jene, die ständig nach dem höchsten Gute suchen Und es bis heute nicht gefunden haben Und wenn ich's wohl bedenke, scheint mir, daß solches nur geschieht, weil es nicht dort ist, wo sie's suchen. Diese Doktoren haben es nie recht verstanden, sind nie den richtigen Weg gegangen, der sie zum höchsten Gute führen kann Denn meiner Meinung nach muß, wer etwas finden will, die Phantasie
anstrengen. Und mit der Erfindung spielen und raten, und kannst du nicht geradeaus gehen, so können dir tausend andere Wege helfen Dies, dünkt mich, lehrt uns die Natur wenn einer nicht auf dem gewohnten Weg vorankommt, sucht er sich hintenrum eine beßre Straße Die Art der Erfindung ist sehr mannigfaltig, doch um das Gute zu finden, muß man, ich hab's erprobt, in umgekehrter Richtung gehen Such etwas Böses, und schon hast du es [das Gute] gefunden, doch höchstes Gut und höchstes Übel paaren sich wie das Federvieh auf dem Markt.
1. KAPITEL
BAUDOLINO BEGINNT ZU
SCHREIBEN
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2. KAPITEL
BAUDOLINO BEGEGNET
NIKETAS CHONIATES
»Was ist das?« fragte Niketas, nachdem er das Pergament in den Händen herumgedreht und einige Zeilen zu lesen versucht hatte.
»Das war meine erste Schreibübung«, antwortete Baudolino.
»Seit ich das geschrieben habe - ich war vielleicht vierzehn und noch kaum mehr als ein Waldbauernbub -, trage ich es überall mit mir herum wie ein Amulett. Danach habe ich noch viele andere Pergamente beschrieben, in manchen Zeiten Tag für Tag. Es kam mir so vor, als ob ich überhaupt nur existierte, um abends aufzuschreiben, was mir tagsüber widerfahren war.
Später genügten mir knappe monatliche Notizen, wenige
Zeilen, um mich an die wichtigsten Geschehnisse zu erinnern.
Und ich sagte mir, wenn ich einmal in fortgeschrittenem Alter sein würde - wie man es jetzt sagen könnte -, würde ich anhand dieser Aufzeichnungen die Gesta Baudolini verfassen. So trug ich auf meinen Reisen die Geschichte meines Lebens mit mir herum. Doch bei der Flucht aus dem Reich des Priesters
Johannes...«
»Priester Johannes? Nie gehört...«
»Ich werde noch von ihm sprechen, vielleicht sogar zuviel.
Was ich sagen wollte, bei jener Flucht habe ich meine
Aufzeichnungen verloren. Es war, als hätte ich mein Leben selbst verloren.«
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»Erzähl mir, woran du dich erinnerst. Ich sammle Bruchstücke von Geschehnissen, Splitter von Begebenheiten und gewinne daraus eine Geschichte, die sich anhört, als sei sie durchwirkt von einem Plan der Vorsehung. Du hast mich gerettet und mir dadurch das bißchen Zukunft gegeben, das mir noch verbleibt.
Zum Dank will ich dir die Vergangenheit wiedergeben, die du verloren hast.«
»Aber vielleicht ist meine Geschichte ja sinnlos...«
»Keine Geschichte ist sinnlos. Und ich bin einer von denen, die den Sinn auch dort zu finden wissen, wo die anderen ihn übersehen. Danach wird die Geschichte zu einem Buch der Lebenden, wie eine helltönende Posaune, deren Klang die Toten aus den Gräbern auferstehen läßt... Ich brauche nur etwas Zeit, ich muß die Geschehnisse bedenken, sie miteinander verbinden, die Zusammenhänge entdecken, auch die weniger sichtbaren.
Aber wir haben ja nichts anderes zu tun, deine Genueser sagen, es wird noch ein paar Tage dauern, bis sich die Wut dieser Hunde gelegt hat.«
Niketas Choniates, vormals Redner am Hofe, oberster Richter des Reiches, Richter des Velums und Logothet der Sekreta oder
- wie man bei den Lateinern sagen würde Kanzler des Kaisers von Byzanz, zugleich Geschichtsschreiber vieler Komnenen sowie der Angeloi, betrachtete neugierig den Mann, der da vor ihm stand. Baudolino hatte ihm gesagt, sie seien sich schon einmal in Kalliupolis am Hellespont begegnet, zur Zeit Kaiser Friedrichs, aber wenn Baudolino damals dabeigewesen war, dann mußte er unauffällig zwischen den Ministerialen gestanden haben, während Niketas, der im Namen des Basileus verhandelt hatte, viel schwerer zu übersehen war. Log dieser Lateiner?
Jedenfalls hatte er ihn vor der Wut der Invasoren gerettet, hatte ihn an einen sicheren Ort gebracht, ihn wieder mit seiner Familie vereinigt und versprochen, ihn heil aus Konstantinopel hinauszubringen.
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Niketas betrachtete seinen Retter. Der Mann sah weniger wie ein Christ als wie ein Sarazene aus. Ein
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