Baudolino
sich
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geflüchtet haben!«
»Ich werde sie suchen.«
»Aber Hypatia könnte dich vergessen haben. Vielleicht wird sie denjenigen nicht wiedersehen wollen, bei dem sie ihre Apathie verloren hat!«
»Du kennst Hypatia nicht. Sie wartet auf mich.«
»Aber du warst schon alt, als du sie geliebt hast, jetzt wirst du ihr wie ein Greis vorkommen!«
»Sie hat nie jüngere Männer gesehen.«
»Aber du wirst Jahre und Jahre brauchen, um jene Orte
wiederzufinden und dann noch weiter zu gehen!«
»Wir aus der Frascheta sind berühmt für unseren Dickkopf.«
»Aber wer sagt dir, daß du bis zum Ende deiner Reise am Leben bleibst?«
»Reisen hält jung.«
Es war nichts zu machen. Am nächsten Tag umarmte
Baudolino Niketas und seine ganze Familie, auch seine
Gastgeber, stieg mit einiger Mühe auf sein Pferd, das
hochbeladene Maultier am Zügel und das Schwert am Sattel, und ritt los.
Niketas sah ihn in der Ferne entschwinden, die Hand noch winkend erhoben, doch ohne sich noch einmal umzudrehen, unbeirrt unterwegs zum Reich des Priesters Johannes.
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40. KAPITEL
BAUDOLINO IST NICHT MEHR
DA
Niketas ging den klugen Paphnutios besuchen. Er berichtete ihm alles von Anfang bis Ende, seit dem Augenblick seiner Begegnung mit Baudolino in der Hagia Sophia, und alles, was Baudolino ihm erzählt hatte.
»Was muß ich tun?« fragte er.
»Für ihn? Nichts, er geht seinem Schicksal entgegen.«
»Nicht für ihn, für mich. Ich bin Geschichtsschreiber, früher oder später werde ich mich daranmachen müssen, die Chronik der letzten Tage von Byzanz zu schreiben. Wo soll ich die Geschichte einordnen, die mir Baudolino erzählt hat?«
»Nirgendwo. Es ist allein seine Geschichte. Und außerdem, bist du denn sicher, daß sie wahr ist?«
»Nein, alles, was ich darüber weiß, habe ich von ihm gehört, so wie ich auch von ihm gehört habe, daß er ein Lügner ist.«
»Nun, siehst du«, sagte Paphnutios, »einem so ungewissen Zeugnis darf ein Geschichtsschreiber keinen Glauben schenken.
Tilge Baudolino aus deiner Chronik.«
»Aber wenigstens während der letzten Tage haben wir eine gemeinsame Geschichte gehabt, im Hause der Genueser.«
»Tilge auch die Genueser, sonst müßtest du die Reliquien erwähnen, die sie fabrizieren, und deine Leser würden den
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Glauben an die heiligsten Dinge verlieren. Es wird dir nicht schwerfallen, die Ereignisse ein bißchen zu verändern, sag einfach, dir sei von Venezianern geholfen worden. Ja, ich weiß, das ist nicht die Wahrheit, aber in einer großen Geschichte kann man kleine Wahrheiten ändern, damit die größere Wahrheit hervortritt. Du mußt die wahre Geschichte des Reiches der Römer erzählen, nicht eine kleine Privatgeschichte, die in einem fernen Sumpf begonnen hat, in einer barbarischen Gegend unter barbarischen Leuten. Und außerdem, würdest du deinen
künftigen Lesern in den Kopf setzen wollen, daß es dort irgendwo zwischen Eis und Schnee einen Gradal gibt - und das Reich des Priesters Johannes in den sonnenverbrannten
Ländern? Wer weiß, wie viele Verrückte sich aufmachen
würden, um unentwegt danach zu suchen, Jahrhunderte und Aber Jahrhunderte lang...«
»Es war eine schöne Geschichte. Schade, daß sie nun niemand erfährt.«
»Glaub nicht, du wärst der einzige Geschichtenverfasser in dieser Welt. Früher oder später wird sie jemand erzählen, der noch verlogener ist als Baudolino.«
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