Baudolino
wie in all diesen Bauwerken, eine Wendeltreppe zur Plattform hinaufführte. Aber die Tür war, obwohl nicht ganz geschlossen, von innen verbarrikadiert.
»Komm runter, Baudolino, was willst du da oben?« Baudolino antwortete etwas, aber Niketas konnte es nicht verstehen. Er bat die Umstehenden, ihm eine ausreichend lange Leiter zu holen.
Sie kam, er kletterte mühsam hinauf und fand sich mit dem Kopf auf der Höhe von Baudolinos Füßen. »Was willst du hier oben?« fragte er noch einmal.
»Hierbleiben. Jetzt beginnt meine Buße. Ich werde beten, meditieren, mich in Schweigen auflösen. Ich werde versuchen, die Einsamkeit fernab von jeder Meinung und Vorstellung zu erreichen, weder Zorn noch Begierde mehr zu empfinden, auch nicht mehr zu räsonieren und nichts mehr zu denken, mich aus allen Bindungen zu lösen, zurückzukehren zum absolut
Einfachen, um nichts mehr zu sehen außer dem Glorienschein der Dunkelheit. Ich werde mich der Seele und des Verstandes begeben, ich werde über das Reich des Geistes hinausgelangen, ich werde im Dunkeln meine Bahn auf den Wegen des Feuers vollenden...«
Niketas machte sich klar, daß er Dinge wiederholte, die er von Hypatia gehört hatte. So restlos will dieser Unglückliche jede Leidenschaft fliehen, dachte er, daß er sich hier oben isoliert, im Versuch, derjenigen, die er immer noch liebt, gleich zu werden.
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Aber das sagte er ihm nicht. Er fragte ihn nur, wie er zu überleben gedachte.
»Du hast mir doch erzählt, daß die Eremiten einen Korb an einem Seil hinunterließen«, sagte Baudolino, »und da haben die Gläubigen ihre Essensreste hineingetan und besser noch die ihrer Tiere. Und dazu ein bißchen Wasser, obwohl man auch Durst leiden und warten kann, bis es dann und wann regnet.«
Niketas seufzte, stieg hinunter, ließ einen Korb mit einem Seil holen und Brot, gekochtes Gemüse, Oliven und ein Stück
Fleisch hineintun. Einer von Theophilattos' Söhnen warf das Seil hinauf, Baudolino fing es und zog den Korb zu sich empor.
Er nahm nur das Brot und die Oliven, das übrige gab er
zurück.
»Jetzt laß mich bitte«, rief er zu Niketas hinunter. »Was ich begreifen wollte, während ich dir meine Geschichte erzählte, das habe ich begriffen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Danke, daß du mir geholfen hast, dahin zu gelangen, wo ich nun bin.«
Niketas ging ihn jeden Tag besuchen, Baudolino grüßte mit einer Handbewegung und schwieg. Nach einiger Zeit bemerkte Niketas, daß es nicht mehr nötig war, ihm Essen zu bringen, denn in Selymbria hatte es sich herumgesprochen, daß nach Jahrhunderten wieder ein Heiliger auf der Säule lebte, und jeder ging hin, um sich darunter zu bekreuzigen und etwas zu essen oder zu trinken in den Korb zu tun. Baudolino zog dann den Korb zu sich herauf, behielt das wenige, was ihm für den Tag genügte, und verteilte den Rest an die zahlreichen Vögel, die sich auf seiner Balustrade niedergelassen hatten. Er interessierte sich nur für sie.
Den ganzen Sommer blieb Baudolino dort oben, ohne ein
Wort zu sprechen, verbrannt von der Sonne und, obwohl er sich oft in den Pavillon zurückzog, von der Hitze gemartert. Sein Bedürfnis verrichtete er nachts über die Balustrade, und am
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nächsten Morgen sah man die Exkremente am Fuß der Säule, klein wie Ziegenköttel. Sein Bart und seine Haare wuchsen immer länger, und er war so schmutzig, daß man es von unten sehen und langsam auch riechen konnte.
Zweimal mußte sich Niketas aus Selymbria fortbegeben. In Konstantinopel war Balduin von Flandern zum Basileus ernannt worden, und die Lateiner besetzten allmählich das ganze Reich, aber Niketas mußte sich um seine Besitzungen kümmern.
Unterdessen bildete sich in Nikäa das letzte Bollwerk des Byzantinischen Reiches, und Niketas erwog, sich dorthin zu begeben, wo man einen Berater mit seiner Erfahrung gut
gebrauchen könnte. Daher mußte er Kontakte knüpfen und diese neue, höchst gefahrvolle Reise vorbereiten.
Jedesmal, wenn er zurückkam, sah er eine dichtere Menge zu Füßen der Säule. Jemand war auf den Gedanken gekommen, daß ein Säulenheiliger, der durch sein fortwährendes Opfer zu solcher Reinheit gelangt war, auch eine tiefe Weisheit haben müßte. Also stieg er mit Hilfe einer Leiter zu ihm hinauf, um Rat und Trost von ihm zu erbitten. Er erzählte ihm von seinem Unglück, und Baudolino antwortete zum Beispiel: »Bist du stolz, so bist du der Teufel. Bist du traurig, so bist du sein Sohn.
Und sorgst du dich um
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