Beck Wissen - Antimaterie - Auf der Suche nach der Gegenwelt
Dirac
Nachdem Niels Bohr die Quantenhypothese in die Atomtheorie eingeführt hatte -die Elektronen eines Atoms können immer nur bestimmte Energiewerte annehmen -, war rasch klar, daß noch eine wesentliche Frage bearbeitet werden mußte: Einsteins Spezielle Relativitätstheorie mußte in diese Theorie einbezogen werden. Die Geschwindigkeiten der Elektronen im Atom liegen nämlich in der Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit. Damit liefert die klassische Physik nur noch Näherungslösungen. Die von Heisenberg und Schrödinger entwickelte Quantenmechanik und die Relativitätstheorie mußten also irgendwie zusammengebracht werden, um eine zutreffende Theorie des Elektrons zu erhalten.
Dieser Aufgabe unterzog sich der englische Theoretiker Paul Dirac. In der Relativitätstheorie ergibt sich nun -im Unterschied zur klassischen Physik - für die Energie des Teilchens eine Quadratwurzel. Das bedeutet sowohl positive wie auch negative Werte für die Teilchenenergie. Wie sollte man sich aber eine negative Teilchenenergie vorstellen? Ein Teilchen mit negativer Energie - das schien etwas völlig Sinnloses zu sein. Auf der anderen Seite war es höchst unbefriedigend, das nicht Interpretierbare einfach beiseite zu lassen, als wäre es nicht vorhanden. Dirac versuchte deshalb, das Problem durch eine neue mathematische Formulierung aus der Welt zu schaffen. Bei diesem Versuch fand er zunächst den Elektronenspin, die „Dralleinheit“ des Elektrons mit seinen zwei Einstellmöglichkeiten im Magnetfeld: parallel zu den Feldlinien oder antiparallel (entsprechend dem Spin + 1/2 und -1/2). Danach hatte Dirac zwar nicht gesucht, es war aber dennoch ein bedeutsamer Erfolg auf dem Wege zum Verständnis der Eigenschaften von Elementarteilchen. Im übrigen verschwand das Problem der negativen Teilchenenergien trotz des neuen mathematischen Ansatzes nicht. Um die negativen Energien zu verstehen, ersann Dirac seine „Löchertheorie“: Der „leere“ Raum ist von Elektronen mit negativer Energie erfüllt, ohne daß wir davon etwas bemerken. Die Energie dieser Elektronen beträgt nach Einstein E = –m × c 2 , die Energie eines „normalen“ Elektrons hingegen E = +m × c 2 . Die Differenz zwischen der Energie der beiden „Elektronenarten“ ist folglich 2 m × c 2 . Hier bedeuten m die Ruhmasse des Elektrons und c die Lichtgeschwindigkeit. Nun stelle man sich eine energiereiche Strahlung der Energie von mindestens 2 m × c 2 vor (das sind 1,022 MeV, also ein Gammaquant), das in das „Meer“ der Elektronen mit negativer Energie eindringt. Aufgrund seiner eigenen Energie ist es in der Lage, ein Elektron negativer Energie auf das energetische Niveau eines Elektrons mit positiver Energie, also eines gewöhnlichen Elektrons anzuheben. Dadurch entsteht also ein Elektron. Zurück bleibt im „Meer“ der Elektronen ein - Loch. Und was könnte es mit diesem Loch für eine Bewandtnis haben? Man stelle sich eine
Abb. 10: Skizze zur Veranschaulichung der Löchertheorie von Paul Dirac. Das „Loch“ im Meer der Elektronen negativer Energie ist ein Positron.
Luftblase in einer Flüssigkeit vor - ebenfalls eine Art „Loch“ inmitten des flüssigen Mediums. Die Blase steigt nach oben! Sie verhält sich genau wie eine Flüssigkeitsblase mit negativer Masse. Während die Blase nämlich nach oben steigt, würde die gleich große Flüssigkeitskugel nach unten fallen, angezogen von der Masse der Erde.
Das „Loch“ im Meer der Elektronen negativer Energie wäre dementsprechend ein Elektron mit positiver Ladung. Es würde im übrigen die bekannten Eigenschaften der gewöhnlichen Elektronen besitzen, nur mit einem umgekehrten Ladungsvorzeichen. Diracs Idee war in ihrer Konsequenz wahrhaft phantastisch: Gleichsam aus der Energie der Gammastrahlung sollte ein Paar elektrisch entgegengesetzt geladener Elektronen erzeugt werden können. Die Forderung nach der Existenz eines bis dahin unbekannten Teilchens, nämlich des positiv geladenen Elektrons, bedeutet das theoretische Konzept der Antimaterie.
Geniale Ideen in der theoretischen Physik sind meist durch sehr junge Leute entwickelt worden. Das Durchschnittsalter der Physiker, die mit bahnbrechenden Vorstellungen zum Fortschritt der Physik beitrugen, war zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung etwa 30 Jahre. Dirac war 26 Jahre alt, als er seine „Antimateriekonzeption“ 1928 erdachte. Rückblickend gestand er allerdings ein, daß ihm die Forderung nach einem positiv geladenen Elektron selbst
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