Begegnung in Tiflis
Fata Morgana. Und sie würden darüber hinwegfliegen, mit einer großen, gleichsam das Wunder begrüßenden Schleife, und wie immer würden sie alle an den Fenstern stehen und sich sagen: wie herrlich ist es, zu fliegen. Wie wunderbar ist doch die Welt. Wie unbeschreiblich schön ist es, zu leben …
Zwei Stückchen Eis, zerschlagen zu kleinen Splittern, den Rand des Glases in Zucker getaucht, eine Maraschino-Kirsche: Der Cocktail war fertig. Bettina trug das Glas auf einem Tablett zu dem lesenden Inder und stellte es auf dem Klapptischchen ab.
»Ein Gewitter«, sagte der Inder auf englisch und warf einen Blick in die brodelnde Nacht. »Werden wir den Flugplan einhalten?«
»Aber ja.« Bettina Wolter lächelte und nahm das Tablett mit dem Rest einiger Sandwichs, die sie zuvor serviert hatte, vom Tisch. »Unser Chefpilot kapituliert nicht vor solchen Kleinigkeiten. Keine Sorge, mein Herr.«
Der Inder lächelte schwach und lehnte sich zurück. »Wir haben heute den 19. Mai?« fragte er.
»Ja, seit drei Stunden.« Bettina zögerte zu gehen. Das Lächeln des Inders war wie erstarrt. Eine Maske war sein Gesicht. So etwas habe ich in Bombay gesehen, bei den Fakiren, dachte Bettina erschrocken. In eine Trance versetzen sie sich, und man kann sie mit Nägeln und Nadeln stechen, Feuer auf ihre Haut legen und Dolche in ihre Muskeln treiben, sie spüren keinen Schmerz mehr, und sie bluten nicht einmal.
»Sie glauben an Gott?« fragte der Inder mit gleichgültiger Stimme.
»Ja«, sagte Bettina leise.
»Dann beten Sie!«
»Soll … soll ich Ihnen lieber ein Glas Wasser bringen, Sir?« fragte Bettina gepreßt. Der Inder schüttelte den Kopf und sah wieder hinaus in die Nacht.
»Jeder Mensch hat sein Schicksal«, sagte er mit einer schwebenden, wie von seinem Körper losgelösten Stimme. »Ein Schicksal, das abläuft wie ein Uhrwerk. Da hilft kein Glas Wasser. Zu ändern ist nichts. Man kann nicht weglaufen, das Schicksal rennt hinterher. Man kann sich nicht verstecken, das Schicksal findet einen doch. Wenn das Meer über die Ufer tritt, hilft da ein Sandsack? Ein dummer Vergleich, ich weiß es, aber man muß das Unabwendbare deutlich machen. Und heute ist der 19. Mai! Beten Sie, Miß Bettina. Wir liegen auf der Handfläche des Schicksals und müssen warten, bis es die Hand umkehrt.«
Bettina Wolter antwortete nicht. Verwirrt ging sie zurück in ihre Koje und setzte sich vor die Anrichte.
Seit vier Jahren flog sie als Stewardeß. Erst innerdeutsche Strecken, dann mit den Europa-Jets nach Rom oder Paris. Seit einem Jahr aber, als Geschenk zu ihrem 21. Geburtstag, wie der Direktor der Luftlinie es ausdrückte, durfte sie die großen Strecken fliegen, und die liebste wir ihr die Strecke Frankfurt-Wien-Istanbul-Teheran-Karatschi und zurück. Die 1001-Nacht-Linie, wie Chefpilot Pohlmann es nannte. Ein Flug, der immer von neuem den Zauber des Orients über sie streute. Die Faszination einer Welt, die sie nie verstehen konnte, aber der sie auch nie entfliehen wollte.
Jetzt jedoch war sie unruhig, von einer merkwürdigen Angst durchzogen, die sie kribbelig machte und aufspringen ließ. Sie ging durch den kleinen Vorraum, der Pilotenkanzel und Kaffeeküche trennte, und in dem in großen Kästen die Aggregate und Verdrahtungen der Funkanlagen hingen, und betrat die Kanzel. Paul Andresen, wieder Kekse knabbernd, winkte ihr zu.
»Unser Süßerli kommt!« rief er. »Langweilig, mein Mädchen? … Alles schläft, einsam wacht nur Bettina in der Nacht …« Er zeigte auf einen Klappstuhl an der Kanzelwand. »Komm, setz dich, Liebling!«
Chefpilot Pohlmann wandte den Kopf zu ihr und nickte ebenfalls. Er war das Gegenteil des immer fröhlichen und oft frivolen Andresen, ein ernster, sachlicher, manchmal kalter Mensch, der nur sein Flugzeug kannte und als Pilot den besten Ruf genoß. Er war Ende der Vierzig, der nur sein Flugzeug kannte und als Pilot den besten Ruf genoß. Er war Ende der Vierzig, hatte ergraute Schläfen und blaue, fast graue Augen, die selten aus einer Freude heraus leuchteten, sondern immer blickten, als spähten sie durch ein Zielfernrohr.
»Etwas Neues?« fragte er und wandte sich dann sofort wieder den Instrumenten zu. Noch flogen sie auf dem Radarstrahl, aber das Unwetter draußen hatte zugenommen, die Maschine schwankte stärker, und wenn Andresen das Barometer ansah, blickte er gleich wieder weg, um sich nicht zu beunruhigen. So dusselig konnte kein Wetter sein, wie das Instrument es anzeigte.
»Nichts. Sie
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