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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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Kisten, die Flüche der Männer, die sie schleppten. Masten und Tauwerk ächzten im Wind, und darüber wurde das Kreischen der Möwen verweht. Vertraute Töne, die sie seit langem begleiteten.
    Hinter der Mauer lag Brügge, das dem Zwin Reichtum und Bedeutung verdankte. Dieser Meeresarm, kaum breiter als ein Fluss, von der großen Sturmflut des Jahres 1134 als Bresche tief ins Landesinnere geschlagen, machte die Stadt zusammen mit der gemächlich dahinfließenden Reie zum bedeutenden Hafen. Beide speisten das verzweigte System der Kanäle und Grachten, die es wie lichte Bänder durchzogen. Tausende von Bürgern hatten ihre Häuser entlang dieser Wasserstraßen gebaut, deren Ufer man ganz allgemein ebenfalls Reie nannte, und sie nutzten sie ebenso für ihre Geschäfte wie zum schnellen Vorwärtskommen. Ysée wünschte sich brennend, all dies nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Seit sie vor vielen Jahren in den Beginenhof gekommen war, hatte sie ihn kein einziges Mal mehr verlassen.
    »Warum antwortest du nicht, Ysée?«
    Seraphinas Stimme klang schrill vor Aufregung. Sicher war sie zu behäbig, ihre Suche bis zu den Wollschuppen an der Mauer auszudehnen. Dennoch straffte Ysée die Schultern und nahm die Stirn von den Steinen. Gerade noch rechtzeitig, denn dieses Mal stand Seraphina tatsächlich hinter ihr. »Ysée, du Nichtsnutz, was treibst du hier? Ich habe dich bei den Spannrahmen gesucht. Du solltest dort bei Mariana sein. Warum lässt du sie deine Arbeit tun?«
    Ysée wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. Sie gab keine Antwort. Es hörte ohnehin niemand zu, wenn sie etwas sagte. »Du hast Schmutz an der Stirn.« Seraphina schüttelte den Kopf über so viel Nachlässigkeit. »Und das ausgerechnet jetzt. Die oberste Meisterin möchte dich sehen. Es gehört sich nicht, die Magistra warten zu lassen. Wenn du an deinem Platz gewesen wärest, hättest du noch Zeit gehabt, dich zu säubern. Jetzt wirst du eben ihren Tadel ertragen müssen. Husch, eil dich und komm mit.«
    Seraphina hastete voraus. Trockene Gräser raschelten unter ihren Schritten, und der dunkelblaue Beginenumhang wehte die Blätter vom Weg, die über Nacht gefallen waren. Ysée lief hinterher und lauschte der Tirade, die Seraphina trotz ihrer Atemlosigkeit keinen Herzschlag lang unterbrach. »Dein Müßiggang wird dich noch einmal in Teufels Küche bringen, Schwester. Du weißt, dass ich deinen Ungehorsam der Meisterin melden muss. Warum träumst du, statt wie alle anderen zu arbeiten?«
    Ysée verzog stumm den Mund. Sie tat wahrhaftig ihren Teil der Pflichten für die Gemeinschaft, aber niemand wollte es wahrhaben. Nicht einmal ihre Mutter, deren Aufgaben sie ebenfalls erledigte.
    Die oberste Meisterin der Beginen vom Weingarten, Dame Methildis van Ennen, wohnte im Kapitelhaus am Rande des großen Kirchenplatzes. Sie war seit vielen Wochen krank, und ihr Leiden verschlimmerte sich mit jedem Tag. Es schien, als verzehre sie ein böser Dämon, und keine Arznei linderte ihre Schmerzen. Weshalb sie trotz ihres schweren Leidens das Gespräch mit einer Magd suchte, hätte nicht nur Seraphina gerne gewusst. Auch Ysée fragte sich, was ihr zur Last gelegt wurde. »Hinein mit dir«, kommandierte Seraphina, als sie ihr Ziel erreichten, und gab Ysée zur Sicherheit einen energischen Schubs zwischen die Schulterblätter. »Man wartet schon viel zu lange auf dich.«
    Ysée trat befangen über die Schwelle in einen Vorraum, der mit schwarz-weißen Steinquadraten ausgelegt war. Genau gegenüber führte eine polierte Holztreppe nach oben, und linker Hand trat eben die zweite Magistra Alaina aus der Küche des Kapitelhauses. Sie trug ein Tablett mit einem dampfenden Krug und glänzenden Zinnbechern, dem der frische Geruch nach pfeffriger Minze und Rosmarin nachwehte. Bei Ysées Anblick hob sie tadelnd die Brauen. »Du kommst spät«, rügte sie. »Und wie siehst du aus? Deine Haube ist schmutzig, deine Stirn beschmiert. Wahrhaftig, aus dir wird nie eine ordentliche Schwester.«
    »Soll ich etwa gehen, die Haube wechseln? Dann muss die Magistra noch länger auf mich warten.« Ysée reagierte an diesem Morgen besonders empfindlich auf Vorwürfe, obwohl ihr das Herz bis in den Hals hinaufschlug. Sie mochte Schwester Alaina nicht, und sie hatte das sichere Gefühl, dass die zweite Meisterin diese Abneigung erwiderte.
    »Du bist aufsässig«, zischte die Altere mit einem Mund so schmal wie ein Strich.
    »Verzeiht.« Ysée brachte die erwartete Entschuldigung

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