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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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»Geht«, sagte sie schroffer, als es sonst ihre Art war. »Tut eure Pflichten, wie es frommen Frauen geziemt. Der Herr behüte euch.«
    Nur Methildis van Ennen wusste, dass sie ihrer Nichte auch eine lebendige Mahnung ins Haus schickte. Vielleicht würden jetzt endlich die Fragen beantwortet werden, die sie vor zehn Jahren zu stellen versäumt hatte. Die Entscheidung lag bei Mareike Cornelis.
    »Gelobt sei Jesus Christus«, hauchte Ysée und huschte hinter Alaina nach draußen. Sie musste nicht lange auf die erste Zurechtweisung warten.
    »Du wirst dich augenblicklich säubern und eine geziemende Haube aufsetzen. Zur Terz erwarte ich dich pünktlich an der Pforte.«
    Zur Terz um neun Uhr! Die kurze Spanne Zeit bis dahin genügte kaum, die kleine Behausung zu erreichen, die sie mit ihrer Mutter bewohnte. Nur besonders angesehene und einflussreiche Beginen lebten in den weißen Fachwerkhäusern rund um den mit Bäumen bestandenen Platz vor der Kirche oder in den größeren Konventsgebäuden. Das Privileg war jenen vorbehalten, die ihr zum Teil beträchtliches Vermögen mit in den Weingarten gebracht hatten. Mittellose Schwestern, wie Ysée und ihre Mutter, wohnten bescheidener. Weil die Armenquartiere neben dem Beginenhospital stets bis zur letzten Kammer belegt waren, hatte man vor ein paar Jahren kleine Holzhäuser in der Nähe der Brachwiesen errichtet.
    In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft befand sich alles, was in der Nähe des Kirchplatzes zu laut, zu geruchsintensiv und zu schmutzig war. Schuppen voller Rohwolle und frisch gefärbter Stoffe, die Spannrahmen zum Trocknen der Wolle, klappernde Webstühle und nicht zuletzt die Ställe für Geflügel, Schweine und Ziegen sowie die Unratgruben.
    Der Weg dorthin war weit. Ysée raffte den Saum ihres Gewandes und rannte so eilig davon, dass ihr keine Zeit blieb, über das Wechselbad der Gefühle nachzudenken, in das sie die Entscheidung der Meisterin am Tage des heiligen Simon gestürzt hatte. Wie üblich traf sie ihre Mutter beim Spinnen an, aber das Rad drehte sich nicht. Vermutlich hatte sie ein Schläfchen gehalten. Berthe erschrak bei ihrem stürmischen Eintritt dermaßen, dass ihr die Spindel aus der Hand rutschte und der Faden riss. »Bei allen Heiligen, was ist das für ein Benehmen?«, beschwerte sie sich entrüstet. »Was hast du hier zu suchen? Es läutet gleich zur Terz, und du siehst aus, als hättest du dich im Schweinetrog gewälzt.«
    Berthe neigte dazu, alles schlimmer zu machen, als es war, aber Ysée ließ sich nicht aufhalten. Sie riss sich das Tuch von den straff geflochtenen Haaren und beugte sich über die Truhe, die neben der offenen Feuerstelle am Kamin stand. »Ich zieh mich ja schon um, Mutter«, sagte sie atemlos. »Ich soll Alaina begleiten. Man hat sie zu einer Sterbenden in die Stadt gerufen. Ich muss mich beeilen, ich bin jetzt ihre Schülerin.«
    »Du gehst in die Stadt? Das darfst du nicht!« Berthe hatte ihre Körperfülle in Bewegung gebracht, um die Spindel aufzuheben. Jetzt hielt sie inne und fixierte Ysée streng. Der oberflächliche Eindruck von Behäbigkeit und Wärme täuschte, das Mädchen wusste es nur zu gut. Die Frau, die alle für ihre Mutter hielten, war schnell mit Ohrfeigen zur Hand, und ihre Zunge traf wie eine Peitsche.
    »Das müsst Ihr der Meisterin sagen, sie hat es mir befohlen.« Ysée steckte die Enden ihrer neuen Kopfbedeckung fest und griff nach einer sauberen Schürze. Mehr konnte sie an ihrer Erscheinung unmöglich zum Besseren wenden, denn andere Kleidungsstücke besaß sie nicht.
    »Aber genau sie war es doch, die mir versprochen hat, dass du nie…«
    Den Rest des Satzes verhallte ungehört. Ysée lief, ihren Umhang dabei schließend, eilig in Richtung Pforte. Im spitzen Holzturm der Kirche schlug die Glocke mahnend zur Terz. Sie sah die Schwestern hintereinander mit fromm gefalteten Händen zur Kirche schreiten. Die weißen Hauben wippten im Wind, und der feierliche Gänsemarsch der einheitlich dunkelblau gekleideten Frauen entlockte ihr trotz aller Dringlichkeit ein Lächeln.
    Hastig bekreuzigte sie sich und traf beim allerletzten Glockenschlag unter der Wölbung des Brückentores ein, wo Alaina eben nach einem Henkelkorb greifen wollte. Ein jähes Glücksgefühl überkam Ysée. Wie oft hatte sie sehnsüchtig über die Brücke hinüber zum Tränkbrunnen der Pferde geschaut, wenn tagsüber die Torflügel offen standen. Dass sie nun tatsächlich die magische Grenze zur Außenwelt überschreiten durfte,

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