Beginenfeuer
Prolog
BURGUND
Im August 1299
Das Kind war ein Knabe. Es kam mit den Füßen voraus, und das bedeutungsvolle Geschlecht entlockte Berthe einen Laut der Überraschung. Erst das Seufzen der Gebärenden lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Besorgnis erregenden Umstand, dass die Geburt stockte. Durfte sie es wagen, den Vorgang zu beschleunigen? Wieso ging es nicht weiter? Sie war keine Wehfrau, aber die Herrin schien am Ende ihrer Kräfte. Sie quälte sich seit den frühen Morgenstunden. Das Haar haftete schweißfeucht an ihren Schläfen, und die ohnehin blasse Haut wurde zunehmend fahler.
Berthe murmelte ein Stoßgebet, bekreuzigte sich hastig und umfasste die zerbrechlichen Beine des Kindes, um ihm auf die Welt zu helfen. Sie spürte anfänglich Widerstand, dann ging alles so unerwartet schnell, dass der kleine Körper fast aus ihren Händen glitt. Die unmittelbare Erleichterung, der sie sich hingab, nachdem das Kind den Mutterleib verlassen hatte, währte jedoch nur, bis sie begriff, dass jede Hilfe für den Erben von Courtenay zu spät kam. Stumm starrte sie auf den leblosen Körper. Die jähe Stille beunruhigte die beiden Mädchen. Eng aneinander geschmiegt und so reglos, als könnten sie auf diese Weise das Unheil hinter den Vorhängen des Alkovens ausschließen, kauerten sie in der Fensternische. Ihre Blicke hingen an der Wand aus Stoff, hinter der Dienerin und Herrin keinen Laut von sich gaben.
»Was ist es, Berthe? So sag doch…«
»Ein Knabe, Herrin.«
Ein toter Knabe. Trug sie die Schuld – hatte ihre Unbeholfenheit das traurige Ende dieser Geburt bewirkt? Hatte sie den Tod des Erben von Courtenay zu verantworten?, fragte sich Berthe.
Margarete von Courtenay, seit acht Jahren Gemahlin des Lehnsherrn, wusste nach fünf Kindbetten, die ihr eine einzige Tochter gelassen hatten, Blick und Schweigen zu deuten. »Er lebt nicht?«
»Ein entsetzliches Unglück, Herrin. Ein Erbe, der keinen Atemzug tut. Was wird der Seigneur nur dazu sagen? Der Himmel sei uns gnädig.«
»Der Himmel ist uns gnädig, Berthe.«
»Wie könnt Ihr das sagen, liebe Dame? Das Unglück verwirrt Euch die Sinne.«
Berthe schlug den toten Säugling eilig in ein Tuch. Am liebsten hätte sie auch ihre Ängste und Zweifel in das Leinen gehüllt. »Das arme Seelchen. Man muss es taufen, damit es trotz allem in geweihter Erde liegen kann. Lauf, Ysée, hol den Priester!«
»Nein!« Margarete von Courtenay legte alle Kraft in ihre Stimme, um das Mädchen, das bereits den ersten Schritt zur Tür getan hatte, zurückzuhalten. »Der Priester wird auf den Wällen sein, das ist kein Ort für ein Kind.«
Seit die Bewohner von Courtenay im Morgengrauen des Laurentiustages vom Waffenlärm geweckt worden waren, tobte der Kampf. Niemand hatte mit diesem Überfall der Andrieus gerechnet, obwohl seit acht Jahren erbitterte Feindschaft zwischen den Familien Courtenay und Andrieu herrschte. Courtenay hatte sich nach dem Tode des Grafen von Andrieu sogar vollends in Sicherheit geglaubt, doch seine Erben bewiesen ihm, dass er einer Illusion erlegen war. Sie mochten halbe Kinder sein, aber sie hatten ein Heer vor die Mauern von Courtenay geführt, das über Rammböcke, Sturmleitern, Katapulte und erfahrene Kämpfer verfügte.
Die Angst, die in den vergangenen Stunden in den Hintergrund gerückt war, erreichte die abgeschlossene Welt des Herrengemaches von Neuem. »Gib mir meinen Sohn.«
Berthe bekreuzigte sich, ehe sie ihrer Herrin das tote Kind in den Arm legte. Hinter den Bogenfenstern, vom steinernen Maßwerk der Mauern gerahmt, verdunkelte Rauch Blick und Himmel. Die Ställe standen in Flammen. Das grässliche Gebrüll von Pferden, Kühen und Schweinen, die bei lebendigem Leibe verbrannten, gellte über das Dröhnen der Rammböcke und die Schreie der Kämpfer. Der Lärm schien immer näher zu kommen.
»Heilige Mutter Gottes steh uns bei.« Die Magd suchte Zuflucht bei einer himmlischen Macht.
»Damit rechne besser nicht«, sagte Margarete von Courtenay nüchtern. Sie schlug das Leinen zurück und betrachtete ihren Sohn, ehe sie seine Wangen küsste, die ebenso blutleer wie seine Haut waren.
Berthe sah sie entsetzt an. Sie verstand weder, was hinter der bleichen Stirn ihrer Herrin vorging, noch, warum sie solche Dinge sagte. Sie kannte sie nicht besser als vor acht Jahren, als Thomas von Courtenay seine junge Gemahlin nach Hause gebracht hatte. Eine eingeschüchterte schöne Flämin, anstelle der einzigen Tochter des Grafen von
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