Bei Anbruch des Tages
achtzehnjährige, wunderschöne Bianca Crippa empfing die Gäste mit einer Liebenswürdigkeit, die ihre Eltern sprachlos machte.
Bei Bianca und Generoso war es Liebe auf den ersten Blick.
Als die Crippas und die Castellis nach dem Mittagessen ihren Kaffee im Salon einnahmen, zeigte Generoso Bianca seinen Wagen, der auf dem Vorplatz der Villa stand.
»Stellen Sie sich vor, Signorina, dieses Auto fährt hundertzwan zig Stundenkilometer. Wenn man heute losfährt, ist man nach einem Tag und einer Nacht in Paris«, erklärte der vergnügungssüchtige Achtundzwanzigjährige.
»Ah, Paris! Schiaparelli, Chanel, Marthe Régnier ⦠Wie gern ich einmal die Champs-Elysées, den Eiffelturm, den Bois du Boulogne und das Moulin Rouge sehen würde! Ich würde auch gern die Mistinguett und Josephine Baker hören, Colette und Marcel Proust treffen, Champagner in einem Bistro am Montmartre trinken ⦠Ach, mein lieber Signor Castelli!«, rief sie mit dem schwärmerischen Blick einer Filmdiva und schloss ihre groÃen dunklen Augen.
»Wieso denn âºSignor Castelliâ¹? Wir sind jung und modern, duzen wir uns doch! Ich werde dir Paris zu FüÃen legen. Wann wollen wir losfahren?«, verkündete er ebenso begeistert.
»Niemals, mon cher ami . Ich werde dieses Haus nur mit einem Ehering am Finger verlassen. Das hat Commendator Crippa so beschlossen. Nun, das hat man davon, wenn man als Frau in eine Welt hineingeboren wird, in der das Recht des Stärkeren, sprich der Männer, regiert. Sie dürfen alles und wir nichts.«
»Wir leben schlieÃlich nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, und das werden die Alten auch noch begreifen, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Ich bin ein Mann, und ich bin auf Seiten der Frauen, die die gleichen Privilegien haben sollten wie wir«, sagte er im Brustton der Ãberzeugung.
»Du hast leicht reden! Du arbeitest, verdienst dein eigenes Geld. Ich bin von meinem Vater abhängig, auch wenn ich mir nur ein neues Paar Strümpfe kaufen möchte. Und meine Mutter wirft mir vor, dass ich zu viel Musik höre, zu viele Bücher lese. Was bleibt mir da anderes übrig, als zu träumen?«, sagte Bianca traurig und fuhr zärtlich über den glänzenden Lack des Wagens. Dann sagte sie plötzlich: »Bring mir das Autofahren bei!«
»Nichts lieber als das!«, erwiderte Generoso und öffnete die Tür, damit Bianca auf dem Fahrersitz Platz nehmen konnte.
In diesem Moment betrat Signora Crippa den Vorplatz und rief nach ihrer Tochter.
»Siehst du, wie sie mich schikaniert? Kaum sieht sie, dass ich mich mit einem Mann unterhalte, schaltet sie sich ein. Ende der ersten Fahrstunde«, murmelte Bianca und wandte sich zum Haus.
Sie lief an der Mutter vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging in den ersten Stock hinauf und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie schlug die Bettdecke zurück, zerrte die Matratze auf den Balkon, schnitt sie mit einer Schere auf und lieà die Wollfüllung wie Schnee in den Garten rieseln, ohne auf die Rufe von Eltern und Dienstboten zu hören.
»Was wolltest du uns damit beweisen?«, fragte ihr Vater, als sie sich endlich dazu entschloss, die Tür zu öffnen.
»Dass ich nicht mehr in diesem Haus schlafen will«, erwiderte Bianca.
»Ich habe nicht vor, dich hier mit Gewalt festzuhalten. Die Welt ist groÃ, und sie gehört dir«, entgegnete ihr Vater und forderte sie auf zu gehen.
Er hatte die Provokationen seiner Tochter satt, mit der er einfach nicht klarkam.
Die Mutter, die hinter ihrem Mann stand, sah Bianca bestürzt an.
»Du hast ja einen tollen Eindruck auf unsere Gäste gemacht! Erst hast du mit Generoso geschäkert, und dann bist du einfach ohne ein Wort des Abschieds verschwunden«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ich bin eben nicht die Tochter, die du dir gewünscht hast. Vielleicht bin ich deine Strafe, weil du schon viel zu alt warst, um noch ein Kind zu bekommen«, erwiderte Bianca gehässig.
Schockiert über diese Frechheit, gab die Frau ihr eine schallende Ohrfeige.
»Du bist verrückt!«, schrie sie.
»Ich hasse dich!«, rief Bianca und rannte Hals über Kopf die Treppe hinunter, während die lauschenden Dienstboten eilig davonstoben. Sie ging in den Garten, stieg aufs Rad, durchquerte den Park und fuhr durchs Tor.
Es war ein schöner Mainachmittag, die Sonne ging gerade unter und
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