Berlin blutrot
Vorwort
U.A.O. Heinlein
Aufregende Autoren, spannende Kurzgeschichten, faszinierende Stadt. Natürlich schreibt man da gerne ein Vorwort! Wer würde das nicht tun?
Und dann beginnt man darüber nachzudenken, was es da überhaupt zu schreiben gäbe. Über die Autoren braucht man nicht viele Worte verlieren; sie sind bekannt und renommiert. Über die Geschichten zu schreiben wäre fatal, denn das nähme womöglich die Spannung, die die Autoren so kunstvoll aufgebaut haben. Gute Kurzgeschichten zu schreiben, bedarf besonderen Talents. Leser auf falsche Fährten locken und erst gegen Ende mit der Auflösung verblüffen. Charaktere zu kreieren, die trotz der kurzen Zeit, in der man sie als Leser kennen lernt, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Aus Orten Tatorte zu machen. Und zwar Orte, die man als Leser gut zu kennen glaubte und zukünftig in völlig anderem Licht sehen wird. All dies sollte man nicht mit unvorsichtigen Hinweisen auf den Inhalt gefährden. Bleibt also die Stadt als solche. Die Stadt, in der die Geschichten spielen. Berlin und seine kriminellen Seiten.
Die Hauptstadt.
Vermutlich die einzige Weltstadt in Deutschland.
Sitz der Bundesregierung.
Hort des … hier stockt der Schreibfluss kurz; die Energie des Schreibenden wird gebraucht, um billigen Gedankenspielen zu widerstehen. Doch zum Glück gibt es ja noch andere Möglichkeiten, sich Berlin unter dem kriminellen Aspekt zu nähern. Schauen wir der Einfachheit halber auf aktuelle Meldungen der Berliner Polizei. Anfang des Jahres fand ein Passant auf einer Parkbank am Hohenzollernplatz in Nikolassee eine Holzskulptur, die eine Mutter mit Kind darstellt. Aufgrund des veröffentlichten Polizeifotos darf man vermuten, dass es sich um ein älteres Kunstwerk handelt, von einem Profi geschnitzt. Wer mag sie dort vergessen haben?
Der Künstler selbst? Wenn ja, wohin wollte er damit?
Oder ein Kunstdieb? Wenn ja, warum hat er die Skulptur liegen lassen?
Und ganz gleich, wer es war: Wo ist er jetzt? Wieso ist niemand zurückgekehrt, um die Figur zu holen?
Fragen über Fragen. Das Kopfkino springt an, sobald man darüber nachdenkt. Genau der richtige Ausgangspunkt für eine wunderbare Kurzgeschichte.
Nun ist der beschriebene Fund zwar real, aber machen wir uns nichts vor: Es wäre auch eine sehr gelungene erfundene Szene für den Auftakt einer Krimigeschichte. Situationen wie diese zu erfinden und daraus fesselnden Lesestoff zu machen, ist die Berufung von Krimiautoren. Mitunter allerdings staunen selbst versierte Kriminalschriftsteller über die kriminelle Energie im echten Leben. Auch Berlin bietet solche Beispiele. Sei es ein bewaffneter Überfall auf eine Pokerrunde in einem Luxushotel, immerhin mit einer Beute von fast 250.000 Euro; sei es ein großer Immobilienbetrug, u.a. mit dem ehemaligen DDR Rundfunkgelände, deren Drahtzieher auf Mallorca verhaftet wurden; sei es ein Gruselmörder, der nach dem Muster von „American Psycho“ einen Obdachlosen zerstückelt: Berlin hat in diesem Genre allerlei zu bieten.
Und doch haben sich die Autoren dieser Anthologie die Mühe gemacht, für dieses Buch Geschichten in und um Berlin zu erfinden, die dem realen Leben in nichts nachstehen, ganz im Gegenteil. Denn das Schöne an der Schriftstellerei ist eben genau diese Möglichkeit, die Realität neu zu erfinden. Dies so zu tun, dass die Leser den Autoren mit Haut und Haar dorthin folgen, ist die große Kunst. Und falls Sie auf meinen Rat hören möchten: Das Folgen lohnt sich, zumal in diesem Buch.
U.A.O. Heinlein
Berlin blutrot
Der Fremde
Vincent Kliesch
Was immer dieser seltsame Mann Paul Krüger am Abend zuvor auch ins Bier gemischt haben musste, es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Krüger hatte so fest geschlafen wie schon lange nicht mehr. Die Geräusche des Akkuschraubers glaubte er zwar wahrgenommen zu haben, aufgeschreckt hatten sie ihn aber nicht. Er hatte sie vermutlich einfach in seinen Traum eingebaut. Jetzt stand er da in seiner Weddinger Mietwohnung. Die Armaturen in Bad und Küche waren fast vollständig abmontiert, die Wände teilweise eingerissen, Kabel und Rohrleitungen entfernt. Der Parkettboden war ausgebaut, und das, was vom ursprünglichen Zustand der Wohnung noch erhalten war, war abgenutzt, verdreckt oder verschimmelt. Wie lange hatte er nur geschlafen? Sein Kopf fühlte sich noch immer schwer wie Blei an, als Krüger sich benommen auf einen umgedrehten Eimer setzte, neben dem feinsäuberlich die einzigen Gegenstände
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