Berlin liegt im Osten (German Edition)
blieb Ulfs schreibende Hand stehen.
Zu Ingrids großer Freude packte er seine Manuskripte weg, und sie fuhren für eine Woche nach Bukow. Es war Herbst, es regnete, die Ferienwohnung war feucht. Zum Heizen war es noch zu früh, sie sollten lange mit der Gutshofbesitzerin über das Heizholz verhandeln. Die Streichhölzer streikten, die feuchten Klötze schwelten, aber brannten nicht. Vergeblich bliesen sie abwechselnd in die schwache Glut. Nicht eine Flamme, sondern graue Asche stieg ihnen aus dem Ofen entgegen.
Die Nacht war still, dunkel und feucht. Sie lagen in einem kalten fremden Bett, schlaflos vom Summen der elektrischen Heizlüfter. Zwei Menschen unter einer Decke, die sich nicht lieben – in Filmen ist das dramatisch, in der Wirklichkeit peinlich.
Nachdem Ingrid aus Ulfs Wohnung ausgezogen war, ist Marius wieder öfter vorbeigekommen. Irgendwann redeten sie wieder mehr, und irgendwann nicht nur über die Nachrichten, Jelzin oder Bill Clinton, sondern auch über die Menschen aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Und wenn ein rares, schüchternes Wort über Dora fiel, sagte Ulf nicht
deine Mutter
, sondern
die Mutter
, wie früher, vor der Wende. Die Marmoreule mit den leuchtenden Augen, das einst verbannte Dora-Geschenk an Ulf, stand wieder auf der Anrichte.
Marius hatte einen eigenen Schlüssel von der Wohnung, und wenn Ulf dieses Klirren im Schloss hörte, setzte sein Herz ein paar Schläge vor Glück aus.
Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte etwas Leckeres kaufen können.
Nudeln gab es bei uns in der Küche doch immer, oder?
Marius lief in der Wohnung auf und ab, blieb vor den Bücherregalen lange stehen, vor der Anrichte.
Varna? – Er zeigte er auf ein gerahmtes Foto.
Hast du’s erkannt?
Ja. Sieht völlig anders aus.
Die Promenade gleicht nun einem mittelalterlichen Jahrmarkt. Tanzende Bären an der Kette und Affen an der Leine.
Gab es damals auch.
Aber nein!, fuchtelte Ulf empört mit den Händen. – Damals war alles ordentlicher, oder ziviler.
Sah ordentlicher aus! Aber es gab da auch Bären an der Kette, sogar auf unseren alten Fotos. Ich zeige es dir gleich. – Marius beugte sich zum unteren Regalfach mit Fotoalben.
Bald vergaßen sie die Affen und schlugen das nächste Album auf, und dann noch eins. So saßen sie, Kopf neben Kopf bis Mitternacht zusammen, fast wie früher.
Nimm die Fotoalben zu dir, und auch die Bettwäsche, das Geschirr, sagte Ulf, als sie schon im Korridor standen.
Ich kann nicht. Ich habe meine Wohnung in Kreuzberg aufgelöst und fahre weg. Morgen.
Warte mal!
Marius blieb einige Minuten stehen und erzählte, die Hand auf der Türklinke, dass er eine Stelle bei
East Security Consulting
bekommen hat, einem Privatunternehmen mit Sitz in Karatschi. Dass die Firma sich in Mittelasien beim Aufbau der NATO-Militärstützpunkte engagiert, wo auch Marius’ Russischkenntnisse von Nutzen sein konnten. Morgen fliege er nach London zu einer kurzen Ausbildung.
Kommst du zum Flughafen morgen? Tegel, Abflug um zwölf.
Das ist ja am Ende der Welt!
Es fährt ein Bus direkt vom Alex da hin.
Ich meine dieses Karatschi, und so.
Mich stört das nicht.
Kriegst du da viel Geld?
Das auch.
Warum machst du das?
Darum, sagte Marius heiser und zog die Tür vor Ulfs Nase zu.
5
Am Flughafen Tegel traf Ulf viel zu früh ein, und als er mehrere überflüssige Runden durch den pentagonartigen Gang drehte, glühte er vor Ungeduld: nie hatte er sich so nach seinem Sohn gesehnt wie in diesem Augenblick. Jede Bewegung des Minutenzeigers tat ihm weh, es waren Augenblicke, in denen sie über ihre Camera Obscura hätten reden können, über ihre Schlittenfahrten. Über eine bestimmte Schlittenfahrt an jenem weißen Sonntag, als die Stadt plötzlich unter einer frischen Schneedecke lag. Der Morgen war blendend hell, und Vater und Sohn wollten unbedingt im Park Friedrichshain rodeln, Dora aber wollte, dass sie an diesem Morgen gleich nach Potsdam zu den Großeltern fahren. Die Eheleute stritten sich heftig, während sich der sechsjährige Marius, in einen dicken Mantel gepackt, schweigend und schwitzend an der Türschwelle quälte. Die Reise nach Potsdam wurde um zwei Stunden verschoben, und die beiden Männer gingen doch noch mit Schlitten in den Park, wo sie gleich bei der ersten Fahrt gegen den Zaun prallten. Marius hatte eine Platzwunde an der Stirn, weinte aber nicht, und als sie ins naheliegende Krankenhaus eilten, erzählte Ulf seinem tapferen Sohn die Legende vom Jungen aus
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