Berlin liegt im Osten (German Edition)
wäre, hätte ich es wie eine lästige
Zeugen-Jehova
-Broschüre in den Mülleimer getan. Jetzt tu ich das nicht. Es ist kein Propaganda-Heft mehr, sondern eine Scherbe aus einer versunkenen Zivilisation. Es ist nun der Ewigkeit geweiht und unseren Gefühlen entzogen wie ein mit Hieroglyphen beschrifteter Papyrus. Oder wie die kaum sichtbaren, fast verschwundenen Zauberformeln, wie sie immer noch durch Fassadenfarben schimmern:
Lichtbildnerei, Schutzraum für 60 Personen
oder
C. Jansen. Ankauf von Schneiderabfall
. Oder wie die hellen Schrammen auf der grauen Fassade des Bürohauses, die immer noch an die Buchstaben der Romanzitate aus Alfred Döblins Roman erinnern.
Und wir, die wir das Flüchtige der Städte bewohnen? Wie viel ist im heutigen Ulf von dem Jüngling übrig geblieben, der im vergangenen Jahrtausend zwischen den Fleischtöpfen der Sieger herumirrte, erschrocken und demütig? Ulkig dünne Wadenknochen über den zu groß wirkenden Füßen im engen Schuhwerk, ein zarter, noch knorpeliger Brustkorb, beinahe durchsichtig, wie bei einem jungen Fisch.
Behutsam lege ich das Heft ‚Go West?‘ zurück und binde die Stapel wieder mit dem Strick zusammen. Eine marmorne Eule mit einer winzigen durchgebrannten Glühbirne im ausgehöhlten Inneren, ein bronzener Pavian – Fossilien, Strandgut eines verebbten Lebens. Vorsichtig wische ich Staub vom runden Hut des kleinen gusseisernen Don Quichotte, der in der Ecke vom Schreibtisch steht: mager, ein Bein um das andere geschlagen, ein Buch vor den Augen, die Schwertscheide leer.
Als die Wunden an Ulfs Händen irgendwann heilten, wurde die Haut dort zart, rosa und unangenehm durchsichtig. Die Tage huschten nun immer rascher an ihm vorbei. Die Einsamkeit schmerzte nicht mehr, sie wurde ihm lediglich peinlich. Die Bemühungen, sie zu tarnen, füllten seine Tage fast restlos aus. Durch die Stadt lief er immer schneller, als es nötig war, und schaute sogar auf die Handuhr. Er machte Einkäufe auf Vorrat, da er bemerkt hatte, dass die einsamen Alten sehr oft in Supermärkte gehen. Aus dem gleichen Grund war er sehr zurückhaltend den Kassiererinnen, Verkäuferinnen und Nachbarn gegenüber. Auch meiner Vorgängerin, die Herrn Seitz vor mir pflegte, schien er wortkarg, trocken und sogar abweisend zu sein.
Ich habe es aber geschafft. Ich bin an ihn herangekommen, ich habe ihm das Widerspenstige genommen und ihn dann fallen lassen. Bald ist er vielleicht tot, denke ich. Ich schalte das schwache, gelbe Licht im Wohnzimmer aus, bleibe eine kurze Weile im dunklen Flur stehen. Dann gehe ich hinaus und ziehe die Tür hinter mir leise zu, wie eine Diebin.
Ich laufe schnell, der frische Schnee knirscht laut unter meinen Füßen. Es hört sich an, als ob mir mehrere Menschen hinterherlaufen würden. Ich drehe mich um – niemand da, nur meine flüchtigen Schatten. Im Licht der Straßenlaternen multipliziert, traben sie mir nach, begleiten mich seitlich oder schneiden mir sogar den Weg vorne ab.
Da leben sie alle wieder, mein Vater und meine Mutter, die ihre Tränen auf den bemehlten Teig fallen lässt – dunkle Kleckse, wie Regentropfen im Sommerstaub einer Landstraße. Mein Großvater – Ulysses, der in seine Heimat zu seiner derben Penelope zurückkehrt, wohl wissend, dass es keine Rückkehr in verlassene Orte gibt. Vera, eine Fee mit raschelnden Bücherseiten anstelle von Flügeln, und Ulf Seitz, der ebenfalls im Begriff ist, sich in eine mythische Figur zu verwandeln.
Der Schnee fällt schneller, als es die Berliner Hausmeister mit ihren Schaufeln und ihrem Streugut sind: Der Gehsteig ist an manchen Stellen glatt und gefährlich. Linienstraße, Rosa-Luxemburg-Platz, Rosa-Luxemburg-Straße. Die Fenster meiner Wohnung sind dunkel. Ich laufe weiter zum übervölkerten Alexanderplatz, mache einen langen Zug an der Zigarette und trete auf der Stelle, weil meine Füße in den durchnässten Schuhen frieren. Neben mir im stinkenden Eingangsbogen steht die große Familie des kleinen
Grill Walkers
und isst Hotdogs: in lachende Brötchen eingeklemmte Würstchen. Er, seine kleine mollige Frau mit schrägem, lila gefärbtem Pony und Piercings rund um den Mund, daneben, wie die Orgelpfeifen, die Kinder. Der Mann steht Tag für Tag hier, seine schwere Ausrüstung lässt ihn mir immer wie ein eingespanntes Pferd erscheinen. Oder wie ein Gladiator.
Jetzt aber sehe ich zum ersten Mal, wie die Frau lächelt, und ihr Lächeln erweist sich als sehr schön. Zauberhaft nett ist sie heute, ihre
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