Berlin liegt im Osten (German Edition)
Liebestanz; ein Hund schaut servil zu seinem Herrchen hinauf, eine Mutter ist über ihren Säugling gebeugt, Wildschweine traben hintereinander her. Und überall sonnen- und federartige Paradiespflanzen. In dieses Bild konnte Ulf stundenlang starren, nie aber öffnete er das verschlüsselte Heft mit dem handschriftlichen Vermerk auf dem Vorsatz:
Alles Beste zum Geburtstag! Anbei ein schönes, gemütliches Gehäuse für Deine Memoiren. Liebe Grüße, Marius
. Die weiteren Seiten blieben aber leer, denn ausgerechnet mit dem Wort
Memoiren
konnte Ulf nun gar nichts anfangen.
Ein Jahr lang tat er nichts als lange und empörte Briefe an die
East Security Consulting
, an das Auswärtige Amt, an das Rote Kreuz zu schreiben, und die Antworten waren mit der Zeit immer kürzer und kamen immer seltener. Als sein Briefwechsel mit den Behörden versiegte, blieb ihm nichts anderes übrig, als nun auf Marius selbst zu warten – schließlich hatte niemand seinen Leichnam gesehen.
Er hat weder seinen Vater, Konrad Seitz, noch seinen Sohn Marius tot gesehen, und er fragte sich oft, was diese Leere vor ihm und nach ihm zu bedeuten hatte? Verschollen. Zwischen Riesenschollen zu Pulver zermalmt. In einen schwarzen Trichter hineingesaugt. Verschwunden. Oder vielleicht lebte Marius immer noch? Aber auch diese Vorstellung tröstete ihn nicht und wurde mit der Zeit immer unerträglicher: Ununterbrochen lief in seinem Kopf ein Film mit der Darstellung jeglicher Qualen, denen man einen schutzlosen menschlichen Körper aussetzen konnte. Von grausigen Phantasien in die Ecke getrieben, zwang er sich, an den Tod seines Sohnes zu glauben: Weg war er, fort, nirgendwo mehr auf der Welt. Und als er sich mit dieser Einbildung abgefunden hatte, zeigten sich zum ersten Mal rosafarbene, schuppige Ekzemflecken auf seinen Händen – hässliche Blüten seelischen Schmerzes.
Sein unfertiges, atemloses Manuskript fasste er nicht mehr an, sein leergeräumter Arbeitstisch glich nun einem schweren, teuren Sarg, an dem Ulf tagelang saß.
Und als er so, den Kopf in den schlappen, schwarz behandschuhten Händen, in seinem verdunkelten Zimmer saß, thronten Schura, Marina und ich gerade auf einer Bank vor dem Kaufhaus
Hertie
am Halleschen Tor. Schura und ich nippten an Dosen mit Tuborg-Bier, und Marina versuchte, ihre alte Puppe in den neuen roten Rucksack zu zwängen. Es war ein herrlicher Tag voller wunderschöner Dinge, die es in unserem früheren Leben nicht gegeben zu haben schien: Goldregen – das blattlose Gebüsch, umsäumt von dichten gelben Blümchen. Riesige Weidenkätzchen, jedes im schimmernden Heiligenschein. Auf der Wiese spielten robuste Männer Boule, dabei riefen sie einander etwas in irgendeiner slawischen Sprache zu. Hinter den Spielern sprangen Kaninchen, die keine Angst vor den bulligen Männern zu haben schienen – wir saßen mitten im lichtdurchfluteten Paradies, voller Erwartungen, gierig auf die Zukunft. Das ist vierzehn Jahre her.
Jetzt ist es blauer Winterabend, ich laufe durch die in anämisches Licht getauchte Wohnung, zwischen nackten Wänden wie in einem Irrgarten gefangen. Vor dem Fenster auf dem Boden türmen sich mehrere Stapel ausgeweideter Fotoalben, daneben vergilbte Zeitschriften und Magazine. ‚Go West?‘ liegt oben, ein Foto auf dem Cover – in Erwartung erstarrte Menschen auf dem langen Weg zu neuen, besseren Ufern. Ich halte das Bild ganz nah ans Licht und mir dann vor die Augen, als ob da zwischen den großen Koffern und den vielen Menschen auch ich irgendwo sein müsse.
Sehen – und kaufen können. Kaufen müssen? Viele Übersiedler überkommt es wie ein Rausch: Eine neue Wohnungseinrichtung, Fernseher, Kühlschrank, Recorder, Waschmaschine, Kleidung, Videogerät, ein Auto selbstverständlich. Es wäre halb so schlimm, wenn es dabei bleiben könnte. Kann es aber nicht – man muss immer mehr produzieren und kaufen, um das kapitalistisches System aufrechtzuerhalten. Man kann sich ganz leicht ausrechnen, dass dieser wuchernde unorganische Tumor, „das Produkt“ bald unsere Erde zugrunderichtet. Aber auch darauf waren die Novizen der Demokratie, geblendet durch die Illusionssymbole der Werbung, nicht anzusprechen. Sehen – und kaufen können. Und: Keiner der Übersiedler, die wir befragten, nahm das Wort Freiheit in den Mund. Haben sie gespürt oder geahnt, dass Freiheit auch ein hohles Wort sein kann, ein Luxus, den nur wenige mit Inhalt füllen können …?
Wenn dieses Heft mir damals in die Hand geraten
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