Berliner Aufklaerung - Roman
gezeichneten Mienen im Foyer herumstanden. So betrachtet konnte Schreiner mit seinem Abgang aus dem Diesseits zufrieden sein.
Gereiztes Hupen ließ Anja hochschrecken. Die Blechschlange vor ihr hatte sich symbolisch weiterbewegt. Anja tat dem Siebener BMW mit B-MW-Kennzeichen hinter ihr den Gefallen und parkte sich vier Meter weiter nach vorn. Autos mit Minderwertigkeitskomplex mußte man eben auch die eine oder andere kleine Freude im Leben gönnen.
Anja hielt es für möglich, daß einer der Institutsirren, die auf Schreiners Konto gingen, zurückgeschlagen hatte. Andererseits waren die meisten von ihnen bereits so verloren, daß sie nicht einmal mehr wußten, daß Schreiner sie auf dem Gewissen hatte. Außerdem wirkte die Aktion sorgfältig geplant und präzise ausgeführt.
Somit war es vielleicht doch ein ordentliches Institutsmitglied gewesen. Wenngleich Petra Uhse sich keinen Zwang angetan hatte, ihrer Genugtuung über
Schreiners Tod Ausdruck zu verleihen, glaubte Anja nicht, daß sie Schreiner zerstückelt hatte: Petra Uhse war nicht die Frau, die konsequent den Schritt vom Schreibtisch zur Kettensäge vollzog.
Hugo Lévi-Brune dagegen schien rührend besorgt, des toten Schreiners Pietät zu wahren. Das mußte nicht unbedingt im Widerspruch dazu stehen, daß Rebecca erzählt hatte, Hugo habe Schreiner für einen ewigen Antisemiten gehalten. Hugo fehlte in Situationen wie der heutigen die Kraft, seine eigentlichen Positionen zu behaupten.
Blieb noch Hinrich Wogner. Er hatte Schreiner schon immer aus seinem ganzen tiefen Herzen verachtet. Für den feingliedrigen Musik-Ästhetiker mußte allein die physische Präsenz des dröhnenden Fleischgebirges eine Qual gewesen sein. Ganz zu schweigen von Schreiners philosophischen Kraftmeiereien, die die Kehrseite seines Welthasses gewesen waren und Wogner regelmäßig zum Erblassen gebracht hatten.
If we took a holiday’ yeah, took some time to celebrate, just one day out of life, it would be, it would be so nice. Anja drehte das Radio leiser. Beim Blick auf den Kilometerstand fiel ihr ein, daß Hektor einen Ölwechsel brauchte.
Sie spürte, daß ihr der Institutsaufenthalt nicht bekommen war. Nicht einmal Hektor gelang es heute, ihre Hirntätigkeit mit seinem vornehm gedämpften Zwölf-Zylinder-Stampfen in Gleichmaß zu bringen. Eigentlich sollte sie sich seit einer Viertelstunde auf die Lebensprobleme Hildegard Kloppenbrinks, ihrer besten – und im Moment auch einzigen – Kundin, einstimmen. Aber – so what.
Der gealterte Intellektuellen-Yuppie Willi Maier-Abendroth
war bis zuletzt Schreiners philosophischer Stammtischbruder geblieben. Die beiden hatten sich schon zu Anjas Zeiten bestens verstanden und mit ihrem bevorzugt männlichen Studentenkreis gemeinsame Heidegger-Wochenend-Seminare veranstaltet. Anja hätte zwar vermutet, daß Maier-Abendroths jüngste, sehr weltzugewandte Politikambitionen ein Grund gewesen wären, ihn und den hauptberuflich an der Welt leidenden Schreiner zu entzweien, aber richtige Männerfreundschaften waren über solch kleine Differenzen wohl erhaben.
Im Seitenspiegel verfolgte Anja, wie sich der BMW mittlerweile auf der linken Spur an Hektor heranarbeitete.
Sie verstand immer weniger, wieso Rebecca sie zu sich bestellt hatte. Viel verraten hatte sie ihr nicht, einen triftigen Grund schien es also nicht zu geben. Andererseits wäre es heute das erste Mal gewesen, daß Rebecca einfach nur so nach ihr verlangt hätte. Daß ausgerechnet Schreiners Tod einen derartigen Schwächeanfall bei der einzigen nüchtern denkenden Person an diesem Institut verursacht haben sollte, konnte Anja kaum glauben. Außerdem hatte ihre alte Freundin vorhin nicht besonders anlehnungsbedürftig gewirkt, eher noch unnahbarer als sonst. Anja wußte jedoch, daß es gerade das war, was sie immer noch an Rebecca fesselte. Seitdem sie die Professorin das erste Mal gesehen hatte, kannte sie die verbotene Lust auf ein intelligibles Wesen.
Der Rundfunk-Moderator verkündete die Uhrzeit in dem Tonfall, mit dem man ganz persönliche Geschenke überreicht: fünfzehn Uhr zweiundvierzig. Erschrocken stellte Anja fest, daß sie noch im Privatoutfit, bestehend
aus Lederjacke, Jeans und Cowboystiefeln, war. Sollte sie der gediegenen Hildegard Kloppenbrink jemals so über den Weg laufen, wäre sie vermutlich auch ihre letzte Kundin los. Also griff Anja hinter den Fahrersitz, wo ihre Berufskleidung – ein dezent teures Seidenkostüm mit passender Bluse – über einem
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