Berliner Aufklaerung - Roman
wenigstens bereit war einzusehen, daß es nicht unbedingt an ihr liegen mußte, wenn ihre Libido sich nicht in der Weise entfalten konnte, wie es zu wünschen gewesen wäre. Nach weiteren Monaten angestrengter Diskussionen, in denen die moralisch-ethischen Aspekte des Ehebruchs gegen das Recht auf sexuelle Selbstverwirklichung abgewogen wurden, war Hildegard Kloppenbrink dazu entschlossen, sich einen Liebhaber zu nehmen.
Anja gab ihrer Hoffnung Ausdruck, daß Frau Kloppenbrink nicht zu lange auf sie gewartet hatte, und schloß ihre Bürotür auf. Ein bißchen fühlte sie sich jedesmal wie im Fummel auf einem Tuntenball, wenn sie in ihre Praxis stöckelte. Aber schließlich wußte sie, was ihre Kunden von ihr erwarteten. Den Ausdruck »Patient« verwendete Anja zur Bezeichnung ihrer Kunden nie – sie lebte nicht zuletzt davon, daß sie ihre Patienten Kunden nannte.
Passend zu Anjas Bekleidungsdesign herrschten im Raum kühles Chrom und Leder vor, an den Wänden hingen einige »abstrakte Expressionisten«. Anja fand diese Einrichtung im Grunde scheußlich, aber ihre Urteilskraft hatte ihr gesagt, daß eine Philosophische Praxis in Halensee so eingerichtet sein müsse.
Hildegard Kloppenbrink nahm auf der vordersten Kante eines der schwarzen Ledersessel Platz, während Anja Teewasser aufsetzte. Sie wählte für jeden ihrer Kunden – oder richtiger: jede ihrer Kundinnen – eine besondere Gesprächssituation. Im Falle Frau Kloppenbrinks hatte sich die gezwungen-entspannte Atmosphäre
eines Kaffeekränzchens unter Frauen von Stand als die beste Basis für heikle Gespräche erwiesen.
»Wie ist es Ihnen am Wochenende ergangen?«
»Danke, ça va.« Frau Kloppenbrink rückte die dunkelblaue Lacklederhandtasche auf ihrem Schoß zurecht. »Gestern konnte ich auf einer Auktion ein herrliches russisches Tafelservice von achtzehnhundertsechsundsiebzig ersteigern, eine prachtvolle Kreation aus der Zarenzeit, Porzellanmanufaktur Sankt Petersburg. «
Anja wußte aus Erfahrung, daß Frau Kloppenbrink Entscheidendes erlebt haben mußte, wenn sie mit irgendwelchen Geschichten von Möbeln oder Geschirr anfing.
»Zar Nicolai Romanow und seine Familie sollen noch kurz vor ihrem unglücklichen Ende von diesem Geschirr gegessen haben. Ich weiß nicht, ob Sie sich mit Porzellan auskennen, Frau Abakowitz, aber Sie können sich sicher vorstellen, wie kostbar dieses Service ist.«
Anja reagierte nicht. Hildegard Kloppenbrink mußte selber zu dem Punkt kommen, an dem sie merkte, daß Ausweichmanöver in zaristisches Tafelgeschirr sinnlos waren.
»Seit der Revolution war dieses Service verschwunden, man glaubte es verloren, bis es Ende der Achtziger in Moskau wieder auftauchte. Danach verschwand es wieder in Ostberliner Privatbesitz. Ja, und dann tauchte es bei ›Altus‹ wieder auf, und nun ist es in meinem Privatbesitz. Einige Teller sind an der Glasur beschädigt, aber insgesamt befindet es sich in einem erstaunlichen Zustand.«
Frau Kloppenbrink blickte zu Anja auf, die ihre einhundertvierundachtzig
Zentimeter Körperlänge lässig an die Schreibtischkante gelehnt hatte und ihre Kundin mit einem ruhigen, leicht ironischen Lächeln ansah. Hildegard Kloppenbrink machte nochmals den Mund auf, um ihn dann stumm wieder zu schließen. Sie merkte, daß sie verloren hatte.
Anja setzte sich auf die Lehne des Sessels, der ihrer Kundin gegenüberstand. Sie wußte, daß in derartigen Situationen ihre sonore Stimme Balsam auf wunden Frauenherzen war. »Mir scheint, daß Sie nicht ganz aufrichtig sind, Frau Kloppenbrink. Ihrer ganzen heutigen Erscheinung glaube ich ablesen zu können, daß Sie etwas erlebt haben, das Sie nicht unberührt ließ. Der Ankauf eines Tafelgeschirrs wird Sie doch nicht so verwirren, daß Sie zu einem dunkelblauen Kostüm braune Strumpfhosen tragen.«
Erschrocken blickte Frau Kloppenbrink an ihren Beinen hinab. Anja hatte recht, sie trug tatsächlich braune Strumpfhosen, die in Kombination mit ihrem sonstigen Habillement nicht anders als fraglich bezeichnet werden durften.
Hildegard Kloppenbrink errötete. Das Teewasser kochte genau im richtigen Augenblick. Anja stand auf. »Orange Pekoe, Earl Grey, Darjeeling, Ceylon, Frau Kloppenbrink?«
»Darjeeling, wenn ich bitten darf.«
Anja sagte sich einmal mehr, daß ihre Kundinnen eine so ausgewählte Behandlung sicher nirgends sonst erfuhren. Sie überbrühte den Tee und nach drei Schweigeminuten, in denen Frau Kloppenbrink immer wieder versucht hatte, unauffällig
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