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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Vaters Bettnachbar neugierig geworden und machte sich daran, sein Bett zu verlassen. Im Sitzen tastete er mit seinen Füßen über den Boden, bis er seine Pantoffeln fand, dann packte er seinen Gehstock und schleifte seinen massigen Körper bis ans Fußende von Vaters Bett. Dort blieb er stehen und fixierte mich, bis ich ihm meinen Stuhl anbot.
    Ich schob den Plastikstuhl ans Kopfende des Bettes, half dem Mann, sich darauf niederzulassen, sagte Alma, dass ich im Café auf sie warten würde, und verließ das Krankenzimmer.
    „Ich bin sicher, er weiß es“, sagte Alma, als sie neben mir im Auto saß und das Schloss des Sicherheitsgurtes einschnappen ließ.
    „Was?“
    „Alles“, sagte sie. „Wie es um seine Krankheit steht, was die Ärzte meinen und dass er vielleicht bald sterben muss.“
    „Hast du ihn danach gefragt?“
    „Nein“, antwortete Alma, „aber das merkt man.“
    „Du vielleicht“, sagte ich.
    „So ist es. Du sprichst ja nicht mit ihm.“
    „Hör mal“, versuchte ich zu widersprechen und wusste, dass sie recht hatte.
    Die plötzliche Helligkeit am Ende der Rampe, die aus der Tiefgarage hinaufführte, blendete mich. Ich verlangsamte, um noch reagieren zu können, wenn irgendwo ein Hindernis auftauchte, und nur allmählich gewöhnten sich meine Augen an das Tageslicht. An der Kreuzung reihte ich mich in die linke Fahrspur zum Abbiegen.
    „Hast du gewusst, dass er bei den Nazis war?“, fragte Alma.
    „Bei der Wehrmacht“, sagte ich. „Das war was anderes.“
    „Ja, aber“, setzte meine Tochter an, aber sie hatte keine Argumente. Ich merkte, dass sie nichts wusste von jener Zeit, außer dass es damals in Deutschland die Nationalsozialisten gegeben hatte. Sie wusste nicht, dass die Region, in der ihr Großvater lebte, 1943 überrannt und ein Teil des deutschen Reiches geworden war, auch nicht, dass die Nazis dort schon lange vorher Fuß gefasst hatten, sie wusste nichts von Stellungsbefehlen und vielleicht auch nichts von den Verwüstungen, die eine Diktatur in den Köpfen junger Menschen anrichten konnte.
    „Er hat für Hitler gekämpft, für diesen Arsch“, sagte sie.
    „Dein Großvater hatte ja keine Wahl“, warf ich ein. „Es war Krieg und er hat sich bestimmt nicht freiwillig gemeldet.“
    „Meinst du, er hat jemanden umgebracht in diesem Krieg?“, insistierte Alma.
    „Das hätte ich auch gerne gewusst“, sagte ich, „aber mit mir redet er nicht darüber.“
    „Oder du nicht mit ihm“, sagte Alma, kontrollierte ihre Fingernägel und versank in Schweigen.

5
    Am Tag, als mein Vater starb, waren wir auf dem Weg zu ihm gewesen. Ich hatte in der Nähe der Passhöhe angehalten, weil Alma schlecht geworden war. Sie war die engen Kurven, in denen ihr Mageninhalt von einer Seite zur anderen geschleudert wurde, nicht gewohnt.
    Sie war ausgestiegen, taumelnd, und hatte einige Schritte vom Straßenrand weg in die märzgraue Wiese gemacht, als mein Mobiltelefon klingelte. Gregor hatte seinen Sekretär beauftragt, mich anzurufen, und dieser erledigte das so routiniert wie die Reservierung eines Tisches im Restaurant.
    Ich sah, wie Alma vor einem zerrinnenden Schneeflecken hockte, die Arme auf die Knie gestützt, und sich nach vorne beugte.
    „Ich soll Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater heute Morgen verstorben ist“, sagte Gregors Sekretär. „Ihr Bruder erwartet Sie bei ihm zu Hause.“
    Ich schnappte nach Luft. Bevor ich noch zu Atem kam, wünschte er mir sein herzliches Beileid und legte auf.
    Ich hatte nicht einmal fragen können, was denn zum Teufel passiert war, so schnell war alles gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Wagen plötzlich losrollte, auf den Abhang zu, und ich trat erschrocken auf die Bremse. Ich bemerkte nicht, wie Alma zurückkam, sie klopfte an das Seitenfenster und machte eine fragende Handbewegung.
    Niemand hatte gedacht, dass es so plötzlich gehen würde, ich hatte Vater drei Tage zuvor zur Therapie gebracht und mich mit ihm für die Rückreise verabredet. Er hatte so gesund gewirkt wie schon lange nicht mehr und hatte mir angekündigt, dass er mir jemanden vorstellen werde, wenn ich ihn abholte. „Du wirst staunen“, hatte er gesagt, „sie ist eine richtige Künstlerin.“
    Im Restaurant auf der Passhöhe rief ich Gregor an. Erst beim dritten Versuch kriegte ich ihn in die Leitung. In der Parteizentrale herrschte Aufruhr, weil der Bürgermeister zurückgetreten war. Anscheinend wusste noch niemand außerhalb von Gregors Büro davon, dass ihr

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