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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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glauben.“
    Ich überlegte, ob ich damals eine bessere Lüge hätte finden müssen oder ob ich sie gleich auf den blutigen Fleck und die zurückgebliebenen Haarbüschel am Straßenrand hätte stoßen sollen. Vielleicht können Kinder die Wahrheit viel besser ertragen, als man es sich als Erwachsener vorstellt? Vielleicht habe ich nur deshalb gelogen, um mir selbst etwas zu ersparen.
    „Aber es war die Wahrheit“, sagte ich.
    Alma lachte bitter, und dann hatten wir die Kehren der Passstraße hinter uns. Ich bog in die Schnellstraße ein, drückte das Gaspedal durch bis zum Anschlag.
    Als sich Alma in ihr Zimmer verzog, setzte ich mich auf den Balkon. Ich nahm mein Telefon mit und legte es neben das Weinglas. Ich wartete darauf, dass mich jemand noch anrief. Vielleicht jemand, dem ich erzählen konnte, dass mein Vater gestorben war. Oder vielleicht dachte Angelina an mich, oder Gregor. Auch eine Kurzmitteilung hätte genügt.
    Am Horizont verglühte der Tag, man konnte zusehen, wie das Licht aus den Gipfeln der Bergketten langsam nach oben wanderte, Stück für Stück, und die Wolkenbäuche rot einfärbte. Ein Motorrad raste irgendwo unter mir vorbei, der aufheulende Motor schnitt eine brennende Linie in die Abendlandschaft, einen Kondensstreifen aus Lärm, der noch lange stehen blieb. Aber allmählich verebbten auch die letzten Straßengeräusche, genauso wie das Geschrei der Kinder auf dem nahen Spielplatz, es war, als schiebe sich alles weg von mir, weiter nach draußen. Alles floh aus der Mitte, alles Helle und Lebendige, machte Platz für die beginnende Nacht. Hier auf meinem Balkon sammelte sich das Dunkel in den Ecken unterm Dach, am Boden, wo sich die Blumentöpfe aneinanderschmiegten, und allmählich floss es über die Balustrade, kippte langsam nach unten. Ich hoffte, dass Sterben auch so sein könnte, ein Weggleiten aus der Wirklichkeit, ein schmerzloses Fallen ins Nichts. Vielleicht war es Vater so ergangen, und wenn wir Glück hatten, würde es uns allen einmal so ergehen. Ein beschwingtes Verschwinden, ein Hinabstürzen, getragen von den Schwingen des Todes. Natürlich war das eine Illusion, ein sentimentales Gedankenschloss, aber zumindest an diesem Abend wollte ich mich daran festhalten.
    Dann kam Alma, setzte sich in ihrem geblümten Nachthemd neben mich und starrte ins Dunkel, das bereits das Nachbarhaus mit seinen Terrassen und Türmchen überzogen hatte.
    „Ich glaube nicht“, sagte sie plötzlich, „dass er jemanden umgebracht hat, in diesem Krieg.“
    „Im Weltkrieg“, korrigierte ich sie.
    „Im Weltkrieg“, wiederholte Alma.
    „Ich weiß nicht“, sagte ich.
    „Man kann das nicht wissen“, sagte Alma.
    „Genau“, sagte ich, „niemand kann das wissen.“
    „Aber man kann daran glauben“, fügte Alma hinzu, „wenn man will.“
    Sie sagte es mit einer Bestimmtheit, wie jemand, der trotzig an das Gute im Menschen glaubt, und ich wollte ihr nicht widersprechen, nicht heute.
    Mittlerweile hatte die Nacht von allem Besitz ergriffen, der Ausschnitt Himmel, den wir zwischen Dachvorsprung und der Silhouette des Nachbarhauses einsehen konnten, war sternlos geblieben. Einzig in den übereinandergestellten Fenstern des Stiegenhauses gegenüber ging von Zeit zu Zeit das Licht an und wieder aus, nach langen drei, vier Minuten. Von unserem Platz aus aber sahen wir niemanden, der die Treppe benutzte, keine Menschenseele.
    Alma begann die Stille auszufüllen, indem sie leise die Sekunden zählte, bis das Stiegenhauslicht wieder erlosch. Das erste Mal kam sie bis zweihundertzwölf und dann bis zweihundertachtundzwanzig, und ich sagte ihr, dass sie langsamer zählen solle, damit nicht alles so schnell vorbeiginge. Sie verstand meine Anspielung nicht (noch nicht), und ein Funken von Freude stob durch mein Hirn.

6
    Nach der Beerdigung fuhr ich mit Alma in die Innenstadt. Wir wollten Gregors Parteifreunden samt ihren verjüngten Ehefrauen ausweichen, die vor dem Friedhof in einem Kreis um Gregor, unsere Mutter und Angelina standen. Allem Anschein nach berieten sie, wo sie noch hingehen könnten. Gregors Sohn aus erster Ehe, der in Wien (angeblich) studierte, war wie seine Mutter gar nicht zur Beerdigung gekommen. Gregor schien das etwas peinlich zu sein, während der Beerdigungszeremonie hatte er mir zweimal zugeflüstert, dass Jonas unmöglich aus Wien hatte weg können, weil er eine enorm wichtige Prüfung habe.
    Wir drückten uns hinter der lauten Freundesgruppe vorbei und übersahen

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