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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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gemacht hatte, die sich unter dem goldenen Wolkenmeer verbarg. Die Handvoll winzigster Proben, die er mitgebracht hatte, hatten ausgereicht zu beweisen, daß der Mond von demselben „Treibhauseffekt“ profitierte, der aus der Venus eine kochende Hölle machte. Und wenn auch die jahreszeitlich schwankenden Temperaturen niemals über zweihundert Grad Kelvin stiegen, so hatten die Fotos doch ganz eindeutig die These untermauert, daß es intelligentes Leben auf Titan gab. Die Entdeckung von Leben, nach so vielen erfolglosen Missionen im restlichen Sonnensystem, hatte sofort zur Ausrüstung einer zweiten Expedition geführt, man hatte eine Sonde losgeschickt, die dazu konstruiert worden war, Daten von der Oberfläche des Titan zurückzufunken.
    Diese Sonde hatte eine Lebensform mit menschlicher Intelligenz entdeckt, oder besser, diese Lebensform hatte die Sonde entdeckt. Und T’uupiehs Entdeckung hatte aus einer potentiell gescheiterten Mission einen Erfolg werden lassen: Die Sonde war mit zehn unbeweglichen Datenverarbeitungseinheiten und zehn „Augen“ oder untergeordneten Einheiten ausgestattet worden, die sich über die Oberfläche des Titan hatten verteilen sollen, um Informationen zu sammeln. Doch der Ausstoß dieser Untereinheiten während des Landemanövers war schiefgegangen, und alle „Augen“ waren auf einem Gebiet von nur wenigen Quadratkilometern um den zentralen Landeplatz der Sonde herum niedergegangen. Doch T’uupiehs Eigeninteresse, ihre Faszination und ihre Bereitschaft, ihren „Dämon“ zu beschwichtigen, hatte alles wieder wettgemacht …
    Shannon sah wieder zu dem flachen Wandschirm auf und erblickte T’uupiehs unglaublich fremdartiges Gesicht – ein Gesicht jedoch, das ihm inzwischen so vertraut war wie sein eigenes Spiegelbild. Sie saß einfach da und wartete mit der ihr eigenen Geduld auf eine Antwort ihres „Dämons“. Wenn seine Übertragung bei ihr ankam, würde sie schon über eine Stunde gewartet haben, und sie würde hinterher wieder so lange warten müssen, während sie eine Antwort diskutierten und er sie dann übersetzte. Sie verbrachte mittlerweile mehr Zeit bei der Sonde als bei ihrem eigenen Volk. Die Einsamkeit der Herrschenden. Er lächelte. Das fast flache Profil ihres mondweißen Gesichtes wandte sich ihm etwas zu – zu der Kameralinse; auch ihr dünner Mund lächelte, entblößte jedoch keinen ihrer langen, spitzen Zähne. Er konnte ein rotes, pupillenloses Auge und den klaffenden Nasenschlitz sehen, der es halb umgab; ihr frostiger Zyanidatem schimmerte blauweiß, erleuchtet vom geisterhaften Halo des Elmsfeuers, das die Sonde die ganze Acht-Tage-Nacht Titans hindurch umspielte. Er konnte Leuchtbälle sehen, die wie japanische Laternen in den Zweigen und Ästen eines entfernten Gestrüpps hingen.
    Es war unglaublich … oder vollkommen logisch, je nachdem, welcher Biologe gerade sprach … daß das auf Stickstoff und Ammoniak basierende Leben auf Titan so viele Ähnlichkeiten mit dem auf Sauerstoff und Wasser aufgebauten Leben auf der Erde hatte. Aber T’uupieh war nicht menschlich, und die Musik ihrer Worte übermittelte ihm immer und immer wieder Botschaften, die den Idealen spotteten, die er in ihr verankern wollte. So hatte sie im Verlauf des letzten Jahres nicht weniger als elf Leute ermordet, und ihre Gesetzlosen hatten noch Gott allein weiß wieviel mehr Morde auf dem Gewissen, Morde an Opfern, die sie ausgeraubt hatten. Sie kooperierte nur deshalb mit der Sonde, weil, wie sie selbst gesagt hatte, ein Dämon eben eine noch blutigere Reputation besaß. Nur ein Dämon konnte ihr Respekt einflößen. Und doch, dem wenigen zufolge, das sie bisher durch sie über ihre Welt, in der sie lebte, hatten erfahren können, war sie nicht besser und auch nicht schlechter als jedes andere Wesen auch – nur erfahrener.
    War sie die Gefangene eines Zeitalters, einer Kultur, in der Blutvergießen mehr galt als Blutsfreundschaft? Oder war es etwa ein biologischer Erbfaktor, der ihre Brutalität philosophisch durchdrang und ihre Philosophie brutalisierte?
    Hinter T’uupieh hatten einige der Gesetzlosen, die um das Lagerfeuer saßen, begonnen zu singen – fremde Folkloregesänge, die in der Übersetzung nichts weiter waren als einfache, wiederholte Verse. Doch in ihrer unverfälschten, unübersetzten Form gehört, boten sie einen melodisch äußerst komplexen Klang: musikalische Sprache im größeren Muster des Liedes. Shannon griff nach vorn und setzte den Kopfhörer wieder

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