01 - Ekstase der Liebe
Kapitel 1
Kent, England, April 1798
Eine Woche vor
ihrem siebzehnten Geburtstag sollte sich Charlottes Leben ändern. Es teilte
sich in zwei Hälften, wie der leuchtende Globus eines Kindes: in ein Davor und
ein Danach. Die Zeit davor verbrachte Charlotte bei ihrer besten
Freundin Julia Brentorton aus dem Internat. Julia und sie hatten das Internat
gemeinsam durchgestanden: die täglich gleiche Plackerei in den Latein-,
Musik- und Tanzstunden oder im Kunstunterricht. Das einzig wirklich Unangenehme
aber war der Anstandsunterricht bei Lady Sipperstein gewesen.
»Julia!«,
zischte Lady Sipperstein stets, wenn sie plötzlich hinter ihrer linken Schulter
auftauchte. »Schlagen Sie die Beine an den Knöcheln übereinander, wenn Sie auf
einem niedrigen Sofa sitzen.«
»Gehen
Sie die Treppe noch einmal hinauf, Charlotte, aber diesmal, ohne mit den
Hüften zu schwingen! Es gehört sich nicht, so herumzuwackeln.«
Lady
Sipperstein war eine furchteinflößende Frau mit einem Busen, der hervorragte
wie der Bug eines Schiffes. Sie wusste auf den Millimeter genau, wie tief man
sich vor einer Herzogin im Vergleich zu einem König zu verneigen hatte, und
drillte ihre Schülerinnen, als stehe ihnen das jeden Tag bevor.
Sie
steckte voller Maximen: »Man entlässt einen Diener wie ein Kind: mit fester
Stimme, kurz und unbeteiligt ... Die angemessene Gabe für einen Kranken richtet
sich danach, wo er lebt. Wohnt er auf Ihrem Gut, instruieren Sie die Köchin,
Knochenmark in Aspik zuzubereiten, und überbringen Sie es persönlich mit etwas
Obst; wohnt er im Dorf, instruieren Sie stattdessen die Diener, ihm ein
ungekochtes Hühnchen zu bringen. Und natürlich versichern Sie sich, dass die
Krankheit nicht ansteckend ist, bevor Sie das Haus betreten. Auch wenn es
wichtig ist, Mitgefühl zu zeigen, ist Dummheit dennoch fehl am Platz.«
Anstandsunterricht
bedeutete immer ein Stunde voller zermürbender Fragen. »Julia! Wenn ein Lakai
das Frühstückszimmer mit einem deutlich geschwollenen Kiefer betritt, was ist
die angemessene Reaktion?«
»Ich
schicke ihn nach Hause?«, lautete Julias vorsichtiger Vorschlag.
»Nein!
Erst erkundigen Sie sich., Ist die Schwellung Ergebnis eines schmerzenden Zahns
oder eines unangebrachten Streits am Abend zuvor? Hat er sich geschlagen,
entlassen Sie ihn. Wenn nicht? Julia?«
Ȁh,
ich schicke ihn zum Arzt?«, stammelte Julia.
»Falsch.
Weisen Sie den Butler an, ihm Pflichten zuzuteilen, bei denen man ihn nicht zu
Gesicht bekommt. Es gibt keinen Grund, Dienstboten zu verhätscheln.«
Für
Charlotte war der Kunstunterricht der Höhepunkt des Tages. In dem weißen,
viereckigen Raum, in dem zwölf Staffeleien die einzige Einrichtung darstellten,
war sie am glücklichsten. Dabei malten sie immer und immer wieder dieselben
Arrangements: zwei Orangen, eine Zitrone; zwei Pfirsiche, eine Birne. Charlotte
machte das nichts aus.
Julia
schon. »Heute einen Kürbis!«, gluckste sie und ahmte dabei Miss Frollips
aufgeregten Tonfall nach, wenn sie ihnen das neueste Stillleben vorstellte.
Für
Julia war die Tanzstunde das Schönste - und zwar nicht wegen des Tanzens,
sondern wegen Mr Luskie. Er war ein ziemlich behaarter Mann und echter
Familienmensch: bodenständig, freundlich, keine Gefahr für die Mädchen, darüber
waren sich alle Lehrerinnen einig. Julia jedoch fand seinen Schnurrbart
schneidig und las Botschaften in dem sanften Druck seiner Hand, wenn er sie
durch die Schritte der Quadrille führte. »Ich vergöttere ihn«, flüsterte
sie Charlotte abends zu.
Charlotte
rümpfte die Nase. »Ich weiß nicht, Julia, er ist ziemlich ... nun ja, er ist
nicht ...« Es war schwer, es in Worte zu fassen. Er war irgendwie gewöhnlich,
aber wie konnte sie das sagen, ohne Julia zu kränken? Sie machte sich Gedanken
über Julias leidenschaftliche Liebesschwüre. Sie würde doch nichts tun, oder?
Natürlich würde Mr Luskie nicht ... aber Julia war so schön. Sie hatte die Haut
eines Pfirsichs, dachte Charlotte, sie duftete süß und war so zart. Würde Mr
Luskie?
Eine
Gouvernante Charlottes hatte eine sehr strenge Meinung über Männer gehabt: »Sie
wollen alle nur das eine, Lady Charlotte!«, pflegte sie zu sagen. »Nur das
eine, vergessen Sie das ja nicht und ruinieren sich damit ihr Leben!« Charlotte
hatte stets genickt und sich gefragt, was dieses Eine wohl sei.
Deshalb
flüsterte sie zurück: »Ich finde ihn gar nicht so gut aussehend, Julia. Hast du
gesehen, dass er rote Äderchen auf den Wangen
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