Besser
Schluck von deinem Wasser, und dann stehst du auf.
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Fünfundvierzig
Damals wohnte ich in dieser winzigen Wohnung zum Hinterhof hinaus. Die Wohnung war schrecklich, abgewohnt und kaum zu heizen, aber hell und sonnig, und ich hatte sie ganz für mich allein. Mein erstes wirkliches Zuhause. Es gab kein Badezimmer und keine richtige Küche, nur einen Vorraum mit einem ramponierten Emailleherd, einem wackeligen Küchenkasten, einer Abwasch und einer Dusche. Ich arbeitete als Kellnerin in einem Szenelokal, und an dem Tag hatte ich mich nach einer langen Nachtschicht aus dem Bett gequält, an einem ganz normalen Vormittag nach den vielen Vormittagen, an denen ich mich hochgezwungen hatte in die einigermaßen aufrechte Position, die ich mir erst mühevoll und unter Schmerzen zurückerkämpfen musste. Aufstehen war wichtig. Aufstehen war das Wichtigste. Aufstehen, egal wofür und warum.
Ich war wie jeden Tag, noch immer wund, noch immer angeschlagen, noch immer nicht ganz ganz, unvollständig, rekonvaleszent, befreit von ihm, aber doch noch voller Verlangen nach ihm, weil ich ja trotzdem nichts anderes hatte statt seiner, niemanden. Ich war noch immer halb, ohne ihn. Noch immer unfähig, mir ein Leben ohne ihn vorzustellen. Und schon ganz abgewetzt vom Warten, aufgerieben vom Sehnen, so viel gesehnt hatte ich mich, seit er mir weggenommen worden war, jeden Tag hatte ich mich gesehnt, ob ich wollte oder nicht, ich konnte mich nicht dagegen wehren, da halfen keine bösen Erinnerungen und keine guten Gründe. Es half nicht, die Narben anzuschauen und zu berühren, ich hatte ihn im System, immer noch.
An diesem Morgen war ich aufgewacht, aufgestanden und in die Küche getappt, noch blöde vom Schlaf, halbblind ohne meine Brille. Hatte nach der Espressokanne getastet und den Herd eingeschaltet und die Kanne auseinandergeschraubt und den Filter am Rand des Abwaschbeckens ausgeklopft, an der Stelle, an der es von splittrigen, grauen Rissen durchzogen war, und während ich geschlagen hatte, während der gepresste, kalte, alte Kaffeesatz in das Becken gefallen und zerbröckelt war, und während ich ihn weggespült hatte, fiel mir auf einmal auf, dass etwas fehlte. Irgendwas, das sonst da war, war jetzt nicht da. Und dann erkannte ich es: Das Sehnen war weg. Da war keine Sehnsucht mehr. Sie war verschwunden. Ich hatte heißes Wasser aus dem Hahn in die Kanne gefüllt und das Sieb eingesetzt und die Dose aufgeschraubt und den letzten Rest Kaffee aus der Dose in das Sieb gelöffelt, und hatte dabei in mir nach der Sehnsucht gesucht, gewühlt, gegraben, und sie war nicht mehr da. Sie war mir ausgegangen wie der Kaffee. Die Sehnsucht hatte keine Entsprechung mehr im Realen, war verschlungen worden von einer Leere. Nichts mehr da, da wo die Sehnsucht gewesen war, alles leer, aber das leer fühlte sich gut an.
Da, wo die Sehnsucht gewesen war, war jetzt ein glatter, schöner, leicht staubiger Ort, ein Platz auf einem warmen Fensterbrett, auf dem die Morgensonne mit einem Mal auf eine Stelle trifft, an der bisher immer ein alter, welker Blumentopf gestanden hatte. Ein schöner, warmer, sonniger, leerer Platz, so war nun auch der Ort, an dem zuvor die Sehnsucht gehockt hatte, so lange gehockt hatte, dass man den Raum, den sie einnahm und verstellte, schon gar nicht mehr bemerkt hatte. Und während ich die Kanne fest zuschraubte, sah ich, dass der Raum nun wieder verfügbar war, sich materialisierte, Luft in sich einsog. Und vielleicht irgendwann von etwas anderem besetzt, mit etwas anderem befüllt werden konnte. Aber im Moment war es nur schöner, leerer, luftiger Raum, der einfach da war. Den man jetzt hatte. Den man ertasten, in dem man die Hand in der Sonne wärmen, sie dann wieder zurückziehen und den Raum wieder anschauen konnte. Ich stellte die Kanne auf den Herd und starrte sie an. Ich suchte einmal noch nach der Sehnsucht, wühlte in mir danach, vielleicht hatte sie nur verschlafen, vielleicht war sie nur noch im Bad, putzte sich nur die Zähne, ich rief nach ihr, ich lockte sie mit den Erinnerungen, auf die sie sonst immer reagiert hatte wie eine Katze auf das Geräusch der Futterschüssel, aber die Sehnsucht war weg. Und sie kam nicht wieder. Nicht während der Kaffee hochbrodelte, nicht während ich ihn in eine Tasse goss, nicht während ich an der Milch roch und nicht während ich den schwarzen Kaffee trank. Nicht an diesem Tag und an keinem anderen. Ich suchte noch eine Zeitlang nach der Sehnsucht,
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