Besser
Interrailreise gespart hatte, und es ihr nie wieder zurückgab. Wie der Miller erzählt, dass er von seiner Mutter hin und wieder mit Kochlöffeln verhauen wurde, aber sonst sei sie eh lustig und nett gewesen. Während nur Adam sagt, er habe eine passable, ja, doch, recht glückliche Kindheit gehabt. Während alle anderen ihm dazu gratulieren. Da schleicht es sich an, ganz langsam, genau da.
Ich saß an dem Tisch und trank meinen Wein, still. Ich hörte zu. Das Licht war warm, Rufus Wainwright sang aus verborgenen Lautsprechern und aus der Küche drang Geschirrklirren. Ich betrachtete die Bilder an der Wand, abstrakte Gemälde in Pastellfarben. Ich hätte auch etwas sagen können, hätte auch erzählen können, aber ich hörte nur zu. Ich hatte das alles nicht gewusst, nichts davon. Ich hatte nur Eckdaten gekannt, wer aus reichem oder gebildetem oder einfachem Haus kam, aber ich hatte von keinem gewusst, wie es in seinem Haus zugegangen war. Ich schämte mich ein bisschen. Und mir wurde ein bisschen warm, von dem Rotwein und von dem zweiten Schnaps, und weil ich diese Leute kenne, so, wie sie da saßen, und ich weiß, wie sie sind und wie sie leben, wie sie handeln und reagieren. Und wie sie mit ihren eigenen Kindern umgehen. Wie sie alle nett und zärtlich zu ihnen sind, zu gluckig manchmal und zu fixiert auf und zu verliebt in sie, aber aufmerksam und verständnisvoll und mit maximalem Vertrauen. Wie keiner von denen sein Kind schlägt oder schlagen würde. Nein, stimmt nicht, ich weiß, dass Jenny ihre zornende Tochter einmal gehauen hat und danach tagelang taub war vor schlechtem Gewissen. Wie keiner von ihnen die eigene kaputte, verkorkste und in all dem ganz normale Kindheit auf die eigenen Kinder überträgt, wie keiner die erlittenen Schrecken zu einem Erbe macht, von dem auch die eigenen Kinder etwas haben sollen. Wie jeder versucht, ein einigermaßen anständiges Leben zu führen. Wie jeder seine Kinder glücklich und glückliche, unversaute, unbeschädigte Menschen aus ihnen machen möchte, fern von den eigenen Beschädigungen und dem eigenen, tief implantierten Unglück. Wie jeder von ihnen für sich die Entscheidung getroffen hatte: Okay, das war das. Und ich mache das jetzt besser. Ich kann das. Egal, was war, ich kann das.
Wir kommen alle von irgendwo her. Wir sind alle beschädigt. Und die meisten von uns wissen, warum sie jetzt da sind, wo sie sind. Und warum wir leben, wie wir leben, und warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir so leben wollen, wie wir leben, warum wir genau so lieben, nicht anders.
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Siebenundvierzig
Ich ziehe meine Glücksunterhose an und enge Jeans, ich trage Lippenstift auf und schlüpfe in die dunkelroten Stiefel, in denen ich mich groß fühle und schlank. Ich bringe Juri und Elena in den Kindergarten, und als der Kleine vor der Bäckerei sein Laufrad umwirft und sich auf den Bauch schmeißt, rede ich mit Elena über Adile, und dass es ihr jetzt sicher gut geht bei ihrer netten Tante, und dann hebe ich Juri hoch und sage ihm in sein strampelndes Gebrüll hinein, dass ich ihn liebhabe und ihn immer liebhaben werde, immer, immer, immerimmerimmer, und dann setze ich ihn wieder ab, schnappe mir das Laufrad, packe ihn fest am Handgelenk und schleife ihn in den Kindergarten. Es gibt keinen Gott. Auf dem Weg zum Atelier mache ich einen kleinen Umweg und kaufe mir eine Rolle Draht und einen großen Karton Tapetenkleister, und ich hole, bevor ich mit dem Aufzug ins Dach hinauffahre, einen Packen alter Zeitungen aus dem Altpapier. Etwas Derartiges wie ein zorniger Gott existiert nicht. Ich ziehe meine Stiefel aus und meine Jeans und meinen Pulli, ich streife den alten blauen Overall über und hole die Rolle Hasengitter und die Beißzange aus dem Abstellraum. Es gibt keinen Gott, keinen guten, keinen strafenden. Ich setze mich an den Schreibtisch und schalte den Laptop an. Kein Gott, nirgends: Wir sind ganz unter uns. Ich überfliege meine Mails und finde nicht, was ich suche. Das Schicksal ist keine Strafe, es ist einfach Schicksal. Ich lösche den Spam. Man kann nichts für seine Kindheit, sie passiert einem einfach. Ich schicke Adam eine nette Mail und schreibe ihm, dass ich mit einer öffentlichen Schule für Elena einverstanden bin, und hänge ihm die Websites zweier Schulen in unserer Nähe an, die beide nett aussehen und von Bekannten empfohlen werden. Ich überfliege die Facebook-Einträge, die er gestern noch gepostet hat. Er ist wieder daheim, in
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